Das Entsetzen ist groß. Die Nachricht vom Schicksal einer 23-Jährigen, die in Indiens Hauptstadt Neu Delhi vor wenigen Tagen von sechs Männern zu Tode vergewaltigt wurde, bewegt Menschen in der ganzen Welt. Schlagzeilen verbreiten das Bild von einer Gesellschaft, in der Frauen wenig zählen und Vergewaltigungen beinahe an der Tagesordnung sind.
Doch in den vergangenen Tagen gingen Tausende Demonstranten auf die Straßen von Neu Delhi. Sie forderten einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel. Politiker versprachen sogleich eine zügige Ahndung der Tat, redeten gar davon, das auf dem Subkontinent bislang von Unterwürfigkeit geprägte Rollenbild der Frau verändern zu wollen. Indu Jalali aber sagt: „Es wird sich in 100 Jahren nichts ändern.“
Frauen in Indien: Daten und Fakten
Die 38-jährige Inderin, die mit Mann und Tochter seit 2008 in Lohr (Lkr. Main-Spessart) lebt, ist sich sicher, dass all die Empörung, all die Ankündigungen schon in wenigen Tagen wirkungslos verhallt sein werden. Zu sehr sei die Rolle der indischen Frau in der Gesellschaft manifestiert, zu groß das Desinteresse breiter Bevölkerungsschichten an einer Veränderung, zu stark der Einfluss korrupter Polizisten und Politiker.
Es ist die ganz persönliche Erfahrung, die den Pessimismus Jalalis nährt: 1996 wurde ihre beste Freundin vergewaltigt und ermordet, ebenfalls in Delhi. Der Täter und Mörder der damals 26-jährigen Studentin Priyadarshini Mattoo war Anwalt und der Sohn des einflussreichen Polizeichefs der Hauptstadt. Der Fall, so erzählt Jalali, habe damals zunächst einen für zahllose Vergewaltigungen in Indien typischen Verlauf genommen: Die männerdominierte Polizei nahm es mit den Ermittlungen alles andere als genau. Der daraus resultierende Mangel an Beweisen führte in erster Instanz vor Gericht zum Freispruch des Angeklagten. Bis dahin waren bereits drei Jahre vergangen.
Gemeinsam mit dem Vater des Opfers kämpfte Jalali sieben weitere Jahre um die Neuaufnahme des Verfahrens. Immer wieder gelang es der Frau, die damals als Marketingexpertin für einen indischen Verlag arbeitete und sich schon immer für soziale Themen starkgemacht hatte, dass Zeitungen und Fernsehkanäle über das Schicksal ihrer vergewaltigten und ermordeten Freundin berichteten. Der daraus resultierende öffentliche Druck habe schließlich dazu geführt, dass der Fall erneut vor Gericht landete.
Der Sohn des Polizeichefs wurde 2006 in zweiter Instanz zum Tode verurteilt, legte jedoch Beschwerde gegen das Urteil ein. 2010 wandelte die höchste Gerichtsinstanz das Todesurteil in lebenslängliche Haft um. Der Verurteilte blieb nur knapp vier Monate hinter Gittern, bevor ihm ein erster Hafturlaub gewährt wurde. Seither, so schildert Jalali, komme der verurteilte Mörder und Vergewaltiger trotz lebenslänglicher Haft immer wieder für längere Zeit in Freiheit.
Dennoch: Die Verurteilung wurde damals von indischen Zeitungen als Wendepunkt im Umgang mit dem Thema Vergewaltigung gefeiert. Doch nachhaltig geändert hat sich danach laut Jalali gar nichts. „Es gibt dort keine Gerechtigkeit. Jeder weiß, wenn du ein Verbrechen begehst, kommst du mit ein bisschen Schmiergeld davon“, ist die 38-Jährige frustriert. Korruption sei in Indien ebenso verbreitet wie kriminelle Politiker.
Gegen über ein Drittel der indischen Parlamentsabgeordneten gebe es strafrechtliche Ermittlungen oder Anklagen, teilweise auch wegen Vergewaltigungen, sagt Jalali. Zu Ende geführt würden die Ermittlungen oder Prozesse freilich in den seltensten Fällen, weil die Betroffenen es zu verhindern wüssten.
„Wie soll sich etwas ändern, solange wir Kriminelle als Politiker und als Minister haben“, fragt Jalali. Auch die Wahlen in der größten Demokratie der Welt könnten an den Zuständen kaum etwas ändern. „In Indien schafft es nur jemand mit krimineller Energie auf eine Wahlliste“, so das vernichtende Urteil Jalalis.
Angesichts der geringen Aussicht auf Erfolg, aber auch im Bewusstsein der gesellschaftlichen Stellung von Frauen, würden in Indien die wenigsten Vergewaltigungen überhaupt zur Anzeige gebracht. „Eine Frau, die in Indien vergewaltigt wird, hat kaum eine Chance, Gerechtigkeit zu erfahren“, sagt Jalali. Seltene Ausnahme seien die wenigen spektakulären Fälle, in denen – wie jetzt im Fall der 23-Jährigen oder damals im Fall ihrer Freundin – über die Medien oder Demonstranten Druck aufgebaut werde.
In den meisten Fällen blieben Vergewaltigungen jedoch ungesühnt. Polizei und Justiz seien nicht nur korrupt und männerdominiert, sondern im Vergleich zu anderen Ländern auch deutlich unterbesetzt. All dies führe dazu, dass Vergewaltigungen eine „alltägliche Sache“ seien, sagt Jalali. Für junge Frauen sei es in Indien jedenfalls „nicht empfehlenswert, in der Nacht alleine auf die Straße zu gehen“. Wirkliche Hoffnung auf Besserung hat die 38-Jährige nicht. Bei den Demonstranten, die nun in Indien auf die Straße gehen und einen gesellschaftlichen Wandel fordern, handele es sich um eine kleine Minderheit. „Die große Masse interessiert das nicht“, sagt Jalali über ihre 1,2 Milliarden Landsleute. Noch immer lebten viele Inder in bitterer Armut. Ihr Alltag sei bestimmt vom Kampf ums tägliche Überleben, nicht von der Frage nach der gesellschaftlichen Stellung der Frau.
Ein Problem sieht Jalali auch im in weiten Teilen des Landes nicht funktionierenden Bildungssystem. Die Tatsache, dass Indiens Wirtschaft kräftig wächst und die Software-Ingenieure des Subkontinents in aller Welt gefragt sind, täuscht laut Jalali darüber hinweg, dass gerade auf dem Land große Teile der Kinder noch keine Schule von innen gesehen haben. Der Wandel des Rollenbildes der Frau könne jedoch nur in der Schule gelingen. „Denn in den Elternhäusern wird er nicht passieren“, so Jalali. Indische Jungen und auch Mädchen würden noch heute in dem Bewusstsein erzogen, dass Frauen untergeordnete Wesen und sexuelle Objekte seien, so Jalali. Sie fordert: „Wir müssen unsere Söhnen lehren, Frauen zu respektieren.“ Dass sich die Stellung der Frau durch neue Gesetze verbessern lässt, glaubt Jalali nicht: „Die Gesetze sind okay, aber keiner wendet sie an. Was helfen bessere Gesetze, wenn die Polizisten und Richter die gleichen sind“, so Jalali resignierend. Sie befürwortet lediglich die nun diskutierte Einführung der Todesstrafe für Vergewaltiger: „Vielleicht könnte das eine Abschreckung sein.“
Sie selbst sei froh und dankbar darüber, dass sie, ihre achtjährige Tochter und ihr Mann, ein für die Lohrer Bosch Rexroth AG arbeitender Software-Ingenieur, in Deutschland und nicht mehr in Indien leben: „Ich fühle mich hier in Sicherheit.“ Eine dauerhafte Rückkehr in ihre Heimatland kann sich Jalali derzeit nicht vorstellen. Was die Rolle der Frau angeht, wünsche sie sich deutsche Verhältnisse für Indien. „Schließlich leben meine Mutter, meine Geschwister und meine Freundinnen alle noch dort.“