Sie glauben gar nicht, was wir zu hören bekommen.“ Martin Burkert, der Vorsitzende der bayerischen SPD-Landesgruppe im Bundestag, ist viel herumgekommen in den vergangenen Tagen. Und fast jeder, der ihm zum Wiedereinzug in den Bundestag gratuliert habe, sagt der Nürnberger Abgeordnete, habe noch einen mahnenden Satz hinzugefügt: „Alles, nur keine Große Koalition.“
Fünf Tage nach der Bundestagswahl steht Sigmar Gabriel heute Abend vor seiner bislang wohl schwierigsten Aufgabe als SPD-Vorsitzender. Bei einem eigens einberufenen Parteikonvent soll er einerseits die Tür zu einer Regierung mit der Union weiter offen halten, ohne dabei aber die Bedenken der Basis auszublenden. Die nämlich ist tendenziell gegen eine solche Allianz und macht auf den Internetseiten der Partei auch keinen Hehl daraus.
„Wer SPD wählt, darf mit den Stimmen der SPD nicht Frau Merkel bekommen“, warnt ein Genosse da. „Ich bin nicht in der Partei, um die CDU zu unterstützen“, sekundiert ein anderer. „Entweder Rot-Rot-Grün oder Opposition“ empfiehlt ein dritter. Einige der 200 Delegierten würden sogar mit dem ausdrücklichen Auftrag, gegen eine Große Koalition zu stimmen, nach Berlin geschickt, erzählt Burkert.
Er selbst denkt nicht ganz so kategorisch. Die im Bundestag vertretenen Parteien müssten alles tun, um neuerliche Wahlen zu vermeiden, sagt der 48-Jährige im Gespräch mit dieser Zeitung vorsichtig. „Ich will keine italienischen Verhältnisse.“
Nicht zu früh Position beziehen
Nur ja nicht zu deutlich werden, nur ja nicht zu früh Position beziehen: Solange die Situation so unklar ist wie im Moment, lässt sich kein Sozialdemokrat in die Karten blicken. Vermutlich wird es in der nächsten Woche erste Gespräche mit der Union geben, förmliche Koalitionsverhandlungen aber müsste erneut ein Parteikonvent absegnen.
Auch eine Mitgliederbefragung ist nach wie vor im Gespräch. Die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, zugleich stellvertretende Parteivorsitzende und auf Gabriel nicht allzu gut zu sprechen, will so ein klares Votum gegen eine Große Koalition organisieren. Das Risiko dabei: Wenn sich dann auch die Grünen verweigern, sind Neuwahlen unausweichlich. Die Gefahr, dabei abgestraft zu werden, ist für die Genossen groß – zwei von drei Deutschen wünschen sich nach einer Umfrage des Instituts Infratest dimap jetzt eine Große Koalition.
Den meisten Sozialdemokraten dagegen wäre es am liebsten, die Grünen würden sich zu einem Bündnis mit der Union durchringen. Die Kanzlerin sei nicht auf die SPD angewiesen, sagt etwa der Finanzexperte Joachim Poß. Niemand solle daher auf die Idee kommen, seine Partei an ihre staatspolitische Verantwortung zu erinnern. Damit seien jetzt „andere dran“.
Sollte es doch zu Verhandlungen mit der Union kommen, soll die Partei sich nach dem Willen des baden-württembergischen Bundesratsministers Peter Friedrich möglichst teuer verkaufen: „Wir müssen das Maximum auf den Tisch legen“, verlangt der. Ein Mindestlohn und die Abschaffung des Betreuungsgeldes „reichen da nicht“.
In einem Brief an die 470 000 Mitglieder der SPD hat Gabriel versprochen, „alle Entscheidungsprozesse, Zwischenschritte und erst recht alle Entscheidungen“ mit größtmöglicher Transparenz und unter breiter Beteiligung der Partei zu organisieren. Das aber muss nicht zwangsläufig auf eine Mitgliederbefragung hinauslaufen. Denkbar sei auch, dass Unter- und Landesbezirke eine Art Stimmungsbild einholten, über das dann im Parteikonvent diskutiert werde, deutet der Bayer Burkert an. Ein Verfahren wie das zur Kür des Kanzlerkandidaten, die Gabriel, Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier unter sich ausgemacht haben, soll es nicht noch einmal geben. „Wir müssen die Basis mitnehmen“, sagt Burkert.
Verhandlungen auf Augenhöhe
Mit einer ähnlich zügigen Regierungsbildung wie 2005 rechnet deshalb niemand in Berlin. Damals hatten Union und SPD ihre Verhandlungen bis zum Parteitag der Sozialdemokraten Mitte November abgeschlossen. Diesmal trifft sich die SPD ebenfalls wieder Mitte November, wenn auch unter anderen Voraussetzungen. Nach der Abwahl von Gerhard Schröder waren beide Koalitionspartner in etwa gleich stark, nun trennen die SPD von der Union knapp 16 Prozentpunkte. Als Juniorpartner abspeisen aber will sie sich nicht lassen. „Wenn die Union etwas mit uns anfangen will“, sagt der Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs, gehe das nur in „Verhandlungen auf Augenhöhe.“ Das hieße am Ende wohl: Beide Seiten bekämen gleich viele Ministerien.
Unabhängig von den Vorbereitungen zur Bildung einer neuen Regierung wird der Bundestag am 22. Oktober zu seiner konstituierenden Sitzung zusammenkommen. Damit würde die Frist voll ausgeschöpft, die das Grundgesetz dafür lässt. Denn nach Artikel 39 der Verfassung muss sich das Parlament spätestens 30 Tage nach der Wahl konstituieren. Bei seiner ersten Zusammenkunft wählt das Parlament einen neuen Bundestagspräsidenten sowie dessen Stellvertreter (siehe auch untenstehenden Artikel).
Die SPD kommt vom 14. bis 16. November zu einem Wahlparteitag zusammen, auf dem auch über die Bildung einer großen Koalition beraten werden könnte. Unklar ist noch, wann die Grünen ihren nächsten Parteitag abhalten, um die Parteispitze neu zu wählen und eventuell über eine Koalitionsbildung zu beraten. Bislang sind der 19. und 20. Oktober beziehungsweise der 23. November im Gespräch. Mit Informationen von dpa