Wenn Jean-Claude Juncker auf das angesprochen wird, was nach dem kommenden Samstag ansteht, benutzt er ein Wort immer wieder: Mut. Der neue Präsident der EU-Kommission, der am 1. November die Amtsgeschäfte von José Manuel Barroso übernimmt, hat sich viel vorgenommen: „Wir müssen den Mut aufbringen, bisher national isolierte Systeme aufzubrechen“, heißt es in seinen fünf Leitlinien – um den Telekommunikationsmarkt zu öffnen, um neue Rechte für Datenschutz und Urheberrecht durchzusetzen, den Binnenmarkt von Hindernissen zu befreien, ein ausgewogenes Handelsabkommen mit den USA zu vereinbaren, die Wirtschafts- und Währungsunion zu vertiefen, um die Briten in der EU zu halten. Vor allem aber, um die europäische Wirtschaft wieder in Fahrt zu bringen.
In einem Gebäude direkt neben dem eigentlichen Sitz der Kommission arbeitet sein Team bereits an der Umsetzung. Viel Zeit für einen behutsamen Neuanfang gibt man sich nicht. Noch vor Weihnachten will Juncker selbst das Herzstück seiner Amtszeit entwerfen und vorstellen: ein Investitionsprogramm über 300 Milliarden Euro, für das es bislang keinen Plan gibt. Schon gar kein Geld.
Der 59-jährige Luxemburger kennt die oft sperrige Funktionsweise der Brüsseler Gremien. Er weiß, dass er in den ersten Wochen nach seiner Wahl programmatisch und forsch auftreten durfte, aber ab dem Tag seines Amtsantritts jeden Versuch unterlassen sollte, sich als Chef einer europäischen Regierung aufzuspielen. „Regiert wird in und von den Mitgliedsstaaten“, betonen Angehörige der Kommission stets.
„Reform-Kommission“ hat der Chef sein Projekt getauft, das ihm fünf Jahre Zeit gibt, um aus einer Gemeinschaft voller Schwächen und mit nur wenigen Musterschülern blühende Landschaften zu machen. Und er weiß auch: Wenn es zum Schwur kommt, müssen die Staats- und Regierungschefs mitziehen. Hemmnisse auf dem Binnenmarkt müssen sie beseitigen. Haushalte müssen in den Hauptstädten konsolidiert werden und Investitionsprogramme können nur – wie er es plant – aus öffentlichen und privaten Geldern gespeist werden. Aber öffentliche Gelder sind Finanzmittel der Mitgliedsstaaten.
Schonfrist schon beendet
Schon gibt es erste Stimmen, nicht nur von den mächtigen deutschen Wirtschaftsverbänden, die vor einer Transfer-Union warnen, in der Brüssel die wettbewerbsschwachen Partner dauerhaft alimentiert. „Wenn wir ehrlich wären, müsste man sagen, dass das Geld entweder transferiert oder gedruckt werden muss“, erklärte László Andor, bisher Sozialkommissar und ein respektierter Ökonom. Junckers Schonfrist war bereits zu Ende, noch bevor er ins Amt kam.
Die dramatischen Eckdaten seien sein Handlungsauftrag, hat der neue Kommissionspräsident betont: 25 Millionen Arbeitslose, Etats, die immer tiefer in die Verschuldung führen, sinkende Produktivität nicht mehr nur in überschuldeten Regionen, zunehmender Abstand zu Ländern mit starker Forschungsförderung wie USA oder Japan. Dass der neue „Mister Europa“ dennoch eine Chance hat, geben viele EU-Experten zu. Denn Jean-Claude Juncker ist der erste Präsident dieser wichtigsten Institution, der von den Bürgern gewählt wurde. Vor dem Europäischen Parlament in Straßburg sagt er, was ihm das bedeutet: „Das macht Mut.“