Die Waffen auf dem Balkan schweigen schon seit fast zwei Jahrzehnten, doch der Krieg im früheren Jugoslawien ist noch lange nicht Geschichte. Während der ehemalige bosnische Serbenführer Radovan Karadzic und Ex-General Ratko Mladic vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag stehen, muss sich seit Montag ein paar Hundert Meter weiter der Staat Serbien für das schlimmste Verbrechen der Menschheit verantworten: Völkermord.
Der Internationale Gerichtshof (IGH) eröffnete jetzt das Hauptverfahren, nachdem Kroatien den Nachbarn schon vor 15 Jahren wegen Verletzung der Völkermord-Konvention verklagt hatte. Nun sitzen die Rechtsvertreter beider Staaten in dem mit edlen Hölzern getäfelten großen Sitzungssaal des Friedenspalastes vor den 15 höchsten Richtern der Welt.
Zunächst erteilt Gerichtspräsident Peter Tomka dem Expertenteam Kroatiens das Wort. „Serbien schürte, organisierte und ermöglichte den Völkermord“, sagte die Völkerrechtsprofessorin Vesna Crnic-Grotic. Für Kroatien ist Serbien der alleinige Aggressor im Bürgerkrieg von 1991 bis 1995 und verantwortlich für die Verwüstung weiter Landstriche, die Vertreibung von Hunderttausenden und für den Tod von 13 500 Landsleuten.
„Ethnische Säuberungen“
Diese Verbrechen wurden zynisch als „ethnische Säuberungen“ bezeichnet. Für Kroatien war es „eine geplante Völkermordkampagne“. Das Land fordert die Verurteilung Serbiens und Entschädigungen. Bis heute ignoriere Belgrad seine Verantwortung, trägt die Juristin vor. Noch immer würden 850 Kroaten vermisst. Geraubte Kulturgüter seien noch nicht zurückgegeben.
Serbien hat seinerseits eine Gegenklage eingereicht, die auch in diesem Verfahren behandelt wird. Danach waren 6500 Tote und 200 000 vertriebene Serben zu beklagen. Diese Angehörigen der serbischen Minderheit in Kroatien waren bei der Rückeroberung der Serbenrepublik Krajina durch das kroatische Militär aus dem Land vertrieben worden. Auch das sei eine Verletzung der Völkermordkonvention.
Die kroatische Linksregierung steht unter ungeheurem Druck der Öffentlichkeit und will sich patriotisch zeigen. Erst Ende vergangenen Jahres hatten Nationalisten mehr als 630 000 Unterschriften gesammelt, um ein Referendum zu erzwingen. Damit soll der verbliebenen serbischen Minderheit der öffentliche Gebrauch ihrer Sprache samt kyrillischer Schrift praktisch verboten werden.
Der Prozess reißt alte Wunden auf: Denn Kroatien will in dem bis zum 1. April angesetzten Verfahren die schlimmsten serbischen Kriegsverbrechen etwa im östlichen Vukovar („kroatisches Stalingrad“) darstellen. Ob das UN-Gericht allerdings Serbien auch schuldig sprechen wird, ist zweifelhaft. Noch nie wurde ein Staatschef, geschweige denn ein Staat, auf der Grundlage der UN-Konvention für Völkermord verurteilt. Dabei hatte die Staatengemeinschaft unter dem Eindruck des beispiellosen Massenmordes an den europäischen Juden 1948 in seltener Harmonie bekannt: Nie wieder Völkermord. Keiner sollte immun sein: kein General, kein Staatschef, ja sogar Staaten nicht. Doch die internationale Justiz tat sich lange schwer mit diesem schlimmsten Verbrechen der Menschheit.
Erst das serbische Massaker im ostbosnischen Srebrenica im Juli 1995 führte zu einer Wende. Die Ermordung von bis zu 8000 muslimischen Männern und Jungen war der größte Völkermord auf europäischem Boden nach dem Zweiten Weltkrieg. Srebrenica stand auch im Mittelpunkt des bisher einzigen IGH-Urteils zur Genozid-Konvention. „Das Gericht erklärt mit 13 zu zwei Stimmen, dass Serbien keinen Völkermord verübt hat“, hieß es im Urteil 2007. Zugleich stellte es aber fest, dass das Massaker ein Völkermord war und Serbien dies nicht verhindert hatte.
Der Zerfall Jugoslawiens
1991 Slowenien, Kroatien und Mazedonien sagen sich von Jugoslawien los 1992 Bosnien-Herzegowina proklamiert Unabhängigkeit 1991-1995 blutiger Bürgerkrieg in Kroatien und Bosnien-Herzegowina gegen serbische Truppen 1996-1999 Kosovo: Auseinandersetzungen zwischen Albanern und Serben. Übergriffe paramilitärischer serbischer Einheiten, Massenflucht der Albaner
1999 Nato-Luftangriff zur Beendigung des Kosovo-Konfliktes, Provinz wird unter UN-Verwaltung gestellt.
2000 Sturz des serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic.
2001 Auslieferung Milosevic' an Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Tod 2006
2003-2006 Serbien und Montenegro bilden losen Staatenbund
2006 Montenegro erklärt seine Unabhängigkeit
2008 Kosovo erklärt seine Unabhängigkeit (völkerrechtlicher Status umstritten) Text: dpa