Um 14.40 Uhr findet Officer Amero, dass es nun genug ist mit der Pressefreiheit. Die beiden Journalisten, die auf dem Bürgersteig der Florissant Avenue auf eine ausgebrannte Tankstelle zu laufen, laufen für seine Begriffe zu langsam. Einer aus Ameros Trupp ruft uns beiden, Ansgar Graw von der „Welt“ und mir, zu, nicht stehen zu bleiben. Auf die Frage nach den Gründen wiederholt er nur stur seine Order, während ein freundlicherer Kollege erklärt, dass man keine Menschenansammlungen wolle. Im nächsten Moment lässt Officer Amero Beamte mit Plastikhandschellen anrücken.
Hände auf den Rücken, das schmale Band festgezurrt, dass es tief in die Gelenke schneidet. In der fensterlosen Kabine eines Polizeitransporters geht es zu einer weitläufigen Shopping-Mall, die den Ordnungshütern als provisorische Einsatzzentrale dient. Von dort ins Buzz Westfall Justice Center, ein Gefängnis in Clayton.
Gürtel abgeben, Schnürsenkel aus den Schuhen entfernen, Hosentaschen nach außen krempeln. Abgetastet werden. Bei der medizinischen Untersuchung fragt eine Krankenschwester, ob man Selbstmordgedanken hege. Alles streng nach Protokoll. Als sich der Ehering partout nicht über den Fingerknöchel ziehen lässt, sagt ein Aufseher, dass man dann eben, mit Ring am Finger, in eine Einzelzelle müsse, statt im großen Saal mit den anderen darauf warten zu können, bis der Fall bearbeitet ist. Irgendwann besinnt er sich eines Besseren, bevor sich, drei Stunden später, die Türen des Knasts öffnen. Es gibt keine Erklärung, kein Wort dazu, was folgt, ob unsereinem ein Gerichtstermin blüht oder sich die Sache erledigt hat. Nichts.
Wenigstens weiß ich jetzt, wie man sich für einen „Mugshot“ hinstellen muss, ein Foto für die Verbrecherkartei. Einmal geradeaus in die Kamera blicken, ein zweites Mal schräg nach links, auf einen roten Punkt an der Wand. Der Vorwurf, erfahren wir zwischendurch, lautet auf „Weigerung, sich zu zerstreuen“. Er ist so bizarr wie die Umstände: Bis auf die beiden Reporter und ein halbes Dutzend Polizisten hielt sich nachmittags keine Menschenseele an besagter Tankstelle auf. Der Name Amero, er taucht übrigens nur im Festnahmeprotokoll auf. Als wir ihn fragten, nannte er sich Donald Duck.
Eigentlich alles nur Petitessen, verglichen mit den Sorgen, die Darrell Bryant umtreiben. Der 29-Jährige arbeitet in einer Plastikfabrik, er müsste zur Schicht. Aber wegen der Unruhen in Ferguson fällt die Schule aus, und Darrell senior muss sich um seinen achtjährigen Sohn kümmern. Ich treffe die beiden frühmorgens vor dem Tankstellen-Torso, wo zu dieser Zeit noch kein Versammlungsverbot gilt. Das Gebäude wurde geplündert und angezündet, kurz, nachdem der Tod des Teenagers Michael Brown die ersten Unruhen ausgelöst hatte. Am frühen Morgen sind Kehrkommandos unterwegs. Die Freiwilligen räumen weg, was der Trubel der Nacht hinterlassen hat.
Darrell Bryant ist wütend auf die Polizei. Normalerweise tritt die Ausgangssperre exakt um null Uhr in Kraft. In der Nacht zum Montag aber, der schlimmsten Unruhenacht, fordert die Polizei die Demonstranten auf, schon drei Stunden vorher nach Hause zu gehen. Als sie nicht Folge leisten, bricht das Chaos aus. „Mann, ich verstehe nicht, warum die Cops uns so schikanieren müssen“, schimpft Bryant.
Am frühen Vormittag trifft Jesse Jackson an der Tankstellenruine ein, der alte Bürgerrechtler, der noch Martin Luther King assistierte. Der Reverend kommt, um Wogen zu glätten. Bei Camise Bedford steht der Prediger momentan allerdings auf verlorenem Posten. Bedford, 27, Vollbart, ein schwarzes Tuch um den Kopf geschlungen, kramt ein Plastikkärtchen aus seinem Portemonnaie. Es weist ihn als Kriegsveteranen aus. Seit er seine Uniform an den Nagel hängte, hat er keine ordentliche Arbeit gefunden. Die Verbitterung steht ihm ins Gesicht geschrieben.
Ortswechsel. Canfield Drive. Wie ein Schlängelband zieht sich die Straße durch Ferguson, hinein in amerikanische Vorortidylle. Hier wurde Michael Brown erschossen, ein Schrein auf dem gelben Mittelstreifen des Canfield Drive markiert den Ort der Tragödie. „Hands up! Don’t shoot“, steht in schwarzen Lettern auf einem blütenweißen T-Shirt. „Nicht schießen!“: Angeblich sollen es Browns letzte Worte gewesen sein, bevor der Polizist Wilson ein zweites, drittes, viertes Mal auf den Abzug drückte.
„Das Misstrauen sitzt tief“, beobachtet Phillip Boyd, der das örtliche Schulsystem leitet. Er spricht von jungen Männern, jungen Afroamerikanern, die sich in der Gruppe beweisen, nicht zurückstecken wollten, wenn nachts die Tränengasgranaten fliegen. Von Macho-Stolz. Die Nationalgarde, seit Wochenbeginn eingesetzt, um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen, mache alles nur schlimmer. Der ganze militärische Habitus: „Damit wird die Kluft zur lokalen Community nur noch ein Stück größer. Das schürt nur den Frust, und eines ist klar: Die Leute gehen nicht weg, es ist ja ihr Viertel.“