Als die „Air Force Two“ mit Joe Biden am Mittwochvormittag gegen 10.30 in Ankara landete, überquerten 500 Kilometer südöstlich die ersten türkischen Panzer die Grenze nach Syrien. Zeitgleich zum Besuch des US-Vizepräsidenten lief die bisher massivste Militäroperation der Türkei in Nordsyrien an – unterstützt von der US Air Force aus der Luft und amerikanischen Militärberatern am Boden.
Die Offensive unterstreicht, welche Rolle die Türkei beim Kampf gegen die Terrormiliz des Islamischen Staats (IS) in Syrien spielen kann. Sie veranschaulicht aber auch das Konfliktpotenzial einer türkischen Verwicklung in den Syrienkonflikt. Denn dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan geht es vor allem darum, die Autonomiebestrebungen der syrischen Kurdenmilizen zu durchkreuzen.
Großer Gesprächsbedarf
Für die USA bedeutet das ein Dilemma: Einerseits sehen sie in den Kurdenmilizen einen wichtigen Verbündeten im Kampf gegen den IS. Andererseits können sie die Furcht der Türkei vor einem Kurdenstaat an ihren Grenzen nicht ignorieren. Biden machte deutlich, dass Washington keinen Kurdenstaat an der türkischen Grenze akzeptiere. Er erinnerte die Kurdenmilizen an die mit den USA getroffene Vereinbarung, sich auf das Gebiet östlich des Euphrat zurückzuziehen.
Es gab also großen Gesprächsbedarf bei den Treffen Bidens mit Präsident Erdogan und Premierminister Binali Yildirim. Aus deren Sicht war der wichtigste Tagesordnungspunkt das Tauziehen um die Auslieferung des Erdogan-Erzfeindes Fethullah Gülen.
Die Türkei macht den 75-jährigen Prediger, der seit 1999 in den USA im Exil lebt, für den Putschversuch vom 15. Juli verantwortlich und will ihn wegen Anführung einer terroristischen Vereinigung vor Gericht stellen. Gülen selbst bestreitet jede Beteiligung an den Umsturzplänen. Washington verlangt vor einer Auslieferung stichhaltige Beweise. Biden sagte eine sorgfältige Prüfung des Auslieferungsantrags zu. Die USA hätten kein Interesse daran, jemanden zu schützen, der einem Verbündeten geschadet hätte.
Erdogan macht Druck
In dem Auslieferungsverfahren müssten allerdings die rechtsstaatlichen Standards gewahrt werden, so Biden. Das Verfahren könne Monate oder sogar Jahre dauern, heißt es in Washington. Aber Erdogan macht Druck. Er verlangt eine „sofortige“ Überstellung des Klerikers. Die USA müssten sich zwischen dem „Terroristen Gülen“ und der „demokratischen Türkei“ entscheiden, so Erdogan.
Mit der Offensive in Nordsyrien demonstrierte die Türkei, wie wichtig sie als Partner in der Koalition gegen den IS sein kann.
Die Operation begann gegen 6 Uhr mit türkischem Artilleriefeuer auf Stellungen des IS bei Dscharablus. Mit schwerem Gerät räumte die Armee an mehreren Stellen die Grenzbefestigungen beiseite. Durch diese Korridore fuhren im Morgengrauen türkische Spezialkommandos nach Syrien. Am Vormittag rollten die ersten Panzer über die Grenze. Ihnen folgten Mannschaftsfahrzeuge mit Kämpfern der Freien Syrischen Armee, die gegen das Assad-Regime kämpfen und von Ankara unterstützt werden. Zuvor hatten die türkischen Behörden am Dienstag den Ort Karkamis auf der türkischen Seite der Grenze evakuiert.
Die türkische Offensive läuft unter dem Codenamen „Schutzschild Euphrat“. Das zeigt, worum es wirklich geht – nämlich nicht in erster Linie um die Vertreibung des IS aus der Region, sondern darum, der syrischen Kurdenmiliz YPG zuvorzukommen, die in den vergangenen Tagen immer weiter auf Dscharablus vorgerückt war.
Kurden kontrollieren Grenzgebiete
Die Kurden kontrollieren im Norden Syriens ein etwa 400 Kilometer langes Gebiet an der Grenze zur Türkei. Der Streifen reicht von der iranischen Grenze bis zum Ostufer des Euphrat. Die YPG hat aber in den vergangenen Wochen auch westlich des Flusses Geländegewinne gegen den IS erzielt. In Ankara fürchtet man, dass an der Südgrenze der Türkei ein zusammenhängendes Autonomiegebiet der Kurden entsteht.
Dabei spielt Dscharablus, das nur einen Kilometer von der türkischen Grenze entfernt liegt, eine wichtige Rolle. Der türkische Vize-Premierminister Numan Kurtulmus bezeichnete in einem Fernsehinterview die Rückeroberung der Stadt sogar als „nationale Sicherheitsangelegenheit“.