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Jetzt will Erdogan die Todesstrafe
Nach der Volksabstimmung in der Türkei: Die Gegner des Präsidialsystems wollen weiter kämpfen. Die Wahlbeobachter beklagen Behinderung und Einschüchterung. Und der Staatschef will seine Pläne möglichst schnell umsetzen.
Gerd Höhler
Gerd Höhler
 |  aktualisiert: 19.10.2020 09:00 Uhr

Ein echter Triumph sieht anders aus. Mit einer knappen Mehrheit von 51,4 Prozent der Stimmen hat der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan bei der Volksabstimmung vom Sonntag sein Präsidialsystem durchgebracht. Unter der neuen Verfassung kann Erdogan ohne Mitwirkung des Parlaments Gesetze erlassen, Minister berufen und den Haushalt aufstellen, leitende Richter berufen und Staatsbeamte einsetzen. Die größte Oppositionspartei CHP spricht von Unregelmäßigkeiten und will die Abstimmung anfechten.

Die Stimmenauszählung lief noch, da klingelte bei Recep Tayyip Erdogan das Telefon. Der Anruf kam aus Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans. In der Leitung war Präsident Ilham Alijew. Dass er als Erster Erdogan zum Erfolg bei dem Verfassungsreferendum gratulierte, war wohl kein Zufall. Denn Alijew regiert in Baku mit einem ganz ähnlichen Herrschaftsmodell, wie es nun Erdogan einführt. Viele politische Gegner, Bürgerrechtler und kritische Journalisten sind in Haft. Alijew verfügt über eine nahezu unumschränkte Macht. Im Februar ernannte er seine Ehefrau Mehriban zur Vizepräsidentin.

Auch Erdogan kann nach der neuen Verfassung seinen oder seine Stellvertreter selbst berufen. Das ist nicht die einzige Entscheidung, die nun in der Türkei mit Spannung erwartet wird. Eine Personalie ist bereits programmiert: Sobald der Oberste Wahlrat das amtliche Abstimmungsergebnis veröffentlicht, womit in etwa zwölf Tagen gerechnet wird, beginnt die Umsetzung der Verfassungsänderung. Als Erstes fällt das Gebot der parteipolitischen Neutralität des Präsidenten. Erdogan kann dann in die von ihm mitbegründete islamisch-konservative AKP zurückkehren und sich auf einem Sonderparteitag zum Vorsitzenden wählen lassen.

Bereits am Montag rief Erdogan das Kabinett unter seinem Vorsitz zusammen. Ein Vorgeschmack auf seine künftige Rolle als Staatsoberhaupt und Regierungschef in Personalunion. Mit der neuen Verfassung wird das Amt des Premierministers abgeschafft, seine Kompetenzen werden dem Staatspräsidenten übertragen. Der bisherige Regierungschef Binali Yildirim fügt sich in sein Schicksal. Er pries den Ausgang des Referendums als „Sieg der ganzen Nation“. Schon vor der Abstimmung hatte Yildirim versichert, es sei für ihn „kein Opfer, sondern eine Ehre“ für Erdogan auf sein Amt zu verzichten.

Dazu soll es zwar erst in zweieinhalb Jahren kommen. Beobachter erwarten aber, dass Erdogan nicht so lange wartet, sondern die für den 3. November 2019 angesetzten ersten gemeinsamen Präsidenten- und Parlamentswahlen möglicherweise vorziehen wird – auch vor dem Hintergrund steigender Arbeitslosenzahlen und zunehmender Inflation. Bis Ende 2019 könnte sich die Wirtschaftslage weiter verschlechtern. Jetzt hätte Erdogan möglicherweise noch Chancen auf eine Zweidrittelmehrheit im nächsten Parlament, denn die Kurdenpartei HDP, deren Führung hinter Gittern sitzt, und die zerstrittene ultra-nationalistische MHP könnten an der Zehnprozenthürde scheitern.

Erdogan ist in Zugzwang. Die Volksabstimmung ging keineswegs nach seinen Vorstellungen aus. Er wünsche sich mindestens 60 Prozent Ja-Stimmen, hatte der Präsident im Wahlkampf erklärt. Tatsächlich zeigten die ersten Auszählungsergebnisse am frühen Sonntagabend eine Zustimmung von 62 Prozent. Doch je mehr Stimmzettel ausgezählt wurden, desto schneller schmolz der Vorsprung dahin. Am Ende blieben nur knapp 51,4 Prozent Ja-Stimmen übrig – etwas weniger, als Erdogan 2014 bei seiner Wahl zum Staatspräsidenten erhielt.

Ohne die Stimmen der Auslandstürken, die in Deutschland bei 1,4 Millionen Wahlberechtigten mit 63 Prozent, in den Niederlanden und Österreich sogar mit 71 und mit 73,5 Prozent für das Präsidialsystem votierten, wäre das Ergebnis noch wesentlich knapper ausgefallen. Angesichts dieses Resultats von einem „Sieg der gesamten Türkei“ zu sprechen, wie es Erdogan jetzt tut, ist ziemlich verwegen.

Die Siegesfeiern der Erdogan-Anhänger fielen denn auch eher gedämpft aus. Besonders bitter für das Regierungslager: 17 von 30 Großstädten stimmten mit Nein, darunter die Metropole Ankara. Auch in Istanbul, wo Erdogan 1994 seine politische Karriere als Oberbürgermeister begann und die AKP bisher noch nie eine Wahl verloren hat, sagten die Wähler mit 51,3 Prozent Nein zum Präsidialsystem. In mehreren Istanbuler Stadtvierteln gingen Gegner des Präsidialsystems auf die Straße, schlugen auf Pfannen und Töpfe und riefen: „Der Kampf geht weiter.“

Noch vor dem Ende der Auszählung reklamierten Erdogan und Yildirim den Sieg – wohl auch, um erst gar keine Zweifel an der Wahl aufkommen zu lassen. Erdogan sprach von einer „historischen Entscheidung“. Er rief das Ausland auf, die Wahl zu respektieren und auf „unsere Empfindlichkeiten“ Rücksicht zu nehmen, vor allem im Kampf gegen den Terrorismus. Premier Yildirim erklärte: „Das Volk hat Ja gesagt und einen Punkt gesetzt.“

Aber es bleiben Zweifel. Dass eine so weitreichende Entscheidung wie die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie und die Einführung eines Präsidialsystems mit so knapper Mehrheit fällt, ist bedenklich genug. Zumal der Wahlkampf alles andere als fair verlief. Das von der Regierung mit allen Mitteln unterstützte Ja-Lager dominierte in der Öffentlichkeit und in den überwiegend Erdogan-treuen Medien.

Die Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) kritisierten, die Gegner der Verfassungsänderung seien im Wahlkampf behindert und eingeschüchtert worden. „Die beiden Seiten der Kampagne haben nicht die gleichen Möglichkeiten gehabt. Wähler wurden nicht mit unabhängigen Informationen über zentrale Aspekte der Reform versorgt“, heißt es im Bericht der Wahlbeobachter.

Die größte Oppositionspartei, die säkular und pro-westlich ausgerichtete CHP, verlangt die Annullierung der Abstimmung. Es sei zu erheblichen Unregelmäßigkeiten gekommen, sagte der CHP-Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu. So habe die Wahlkommission in einigen Stimmbezirken auch Wahlzettel zugelassen, die kein offizielles Siegel trugen. Diese Einwände wies der Leiter der Wahlkommission zurück. Die Stimmzettel seien auch ohne Stempel echt, korrekt und damit gültig gewesen, erklärte Sadi Güven. Die pro-kurdische Oppositionspartei HDP sprach davon, bei der Abstimmung habe es „Manipulationen in Höhe von drei bis vier Prozentpunkten“ gegeben.

Erdogan gibt sich trotz des knappen Ausgangs und der Manipulationsvorwürfe unbeirrt. „Wir werden jetzt raufschalten und unseren Kurs mit größerem Tempo fortsetzen“, rief der Präsident am Wahlabend jubelnden Anhängern zu, die sich vor seiner Istanbuler Residenz am Bosporus versammelt hatten. Es gebe noch „viel zu erledigen in diesem Land“, sagte Erdogan – woraufhin die Menge den Ruf „Todesstrafe, Todesstrafe“ anstimmte. Erdogan bekräftigte, die Wiedereinführung der Todesstrafe werde jetzt „einer der ersten Schritte“ sein. Und wenn es dafür im Parlament nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit gebe, „dann machen wir eben auch dazu eine Volksabstimmung“.

 
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