Ausgerechnet am Tag der Trauer erstrahlt das sonst so verregnete Brüssel in schönster Frühlingssonne. Dabei ist der 22. März seit dem vergangenen Jahr ein schwarzer Tag in der Geschichte Belgiens. Der Park Cinquantenaire, in dessen Mitte die belgische Fahne vor dem Triumphbogen auf Halbmast hängt, wird von Reiterpatrouillen kontrolliert, die Eingangstore sind schon früh von Polizeifahrzeugen und mit Absperrgittern verbarrikadiert. Es ist kalt an diesem Morgen.
Die Metrostation Maelbeek wird für die Öffentlichkeit gesperrt, an der benachbarten Station Schuman direkt am Berlaymont-Gebäude, wo die EU-Kommission ihren Sitz hat, bleibt nur ein einziger Eingang offen. Nichts soll schiefgehen, kein Risiko eingegangen werden an diesem Tag, der vor einem Jahr 32 Menschen in den Tod riss und weit über 300 verletzte, teils für immer entstellte oder schwere Behinderungen zufügte.
Schon früh am Morgen beginnt der erste Gedenktag der Brüsseler Anschläge am Flughafen Zaventem, der wenige Autominuten vom Stadtrand entfernt liegt. Opfer, Familienangehörige und Hinterbliebene gedenken in einer Schweigeminute gemeinsam mit Premierminister Charles Michel und dem Königspaar, Philippe und Mathilde, den Menschen, die am 22. März vom Terror erfasst wurden. Genau um 7.58 Uhr legt sich Stille über den sonst so geschäftigen Ort. Hinter den Glasscheiben der Abflugterminals geht die Sonne auf.
Eine Rockballade unterbricht die Stille, vorgetragen von einem Witwer, dessen Frau zum Flughafenpersonal gehörte und an jenem Morgen ihren letzten Arbeitstag antrat, als Ibrahim El Bakraoui und Najim Laachraoui ihre beiden Bomben in der Abflughalle vor den Schaltern amerikanischer Airlines zündeten. Es ist Eddy Van Calster, der mit seinem selbst komponierten Lied seiner Frau Fabienne gedenkt. Dass er nicht alle Töne trifft, lässt den 51-Jährigen in diesem Moment umso verletzlicher wirken.
Eine Mitarbeiterin des Flughafens verliest mit monotoner Stimme die Namen der 16 Menschen, die hier ihr Leben verloren, begleitet von den melancholischen Klängen eines Violoncellos: „Alexander, Sacha, Justine, Adelma, Rosario, Jennifer, Evita. . .“ Mit einem Sonderzug fährt das Königspaar von dort zur Metrostation Maelbeek, wo weitere 16 Menschen um 9.11 Uhr starben, als Ibrahims El Bakraouis Bruder Khalid die dritte Bombe zündete. Bereits kurz nach den Attentaten hatten Menschen in der Eingangshalle der U-Bahnstation ihre Gedanken auf einer Tafel niedergeschrieben. Sie ist inzwischen hinter Glas eingefasst. Vor ihr legt König Philippe einen Kranz nieder – „im Namen der ganzen Nation“. Es ist Christelle, die bei der Explosion damals verletzt wurde, die nun eine Art Gedicht vorträgt: „Aufstehen, auch wenn wir es manchmal nicht schaffen, uns ans Leben zu klammern, das in voller Geschwindigkeit läuft“, sagt sie mit schwerer Stimme: „Weitermachen, trotz der schrecklichen Bilder, die sich im Kopf im Kreis drehen.“ Am Ende der Zeremonie wird eine Gedenktafel enthüllt: „Wir werden niemals vergessen“, steht darauf.
Zeitgleich halten die U-Bahnen an, Menschen applaudieren in den Waggons – dazu hatte man sie im Vorfeld aufgerufen, als Zeichen des Protests. Draußen ertönt ein Hupkonzert: Busse und Straßenbahnen machen Lärm, wie zum Trotz an die Erinnerung jenes unheimlichen Moments der Stille nach der Explosion damals, die kurz darauf von schrillen Polizei- und Krankenwagensirenen durchrissen worden war.
Nur wenig später beginnt einen Steinwurf vom Kommissionsgebäude, auf der verkehrsberuhigten Straße zwischen dem Berlaymont-Gebäude und dem großen Park, die eigentliche Gedenkfeier. Dort hat die Stadt Brüssel eine Skulptur errichten lassen. Es sind zwei metallene, geschwungene Platten, die aufeinander zulaufen. Sie sind mit kleinen Einbuchtungen versehen, in denen sich Regenwasser wie Tränen sammelt: „Zum Gedenken an die Opfer von Terroranschlägen“ steht darauf.
„Vor einem Jahr wurde unser Land ins Herz getroffen“, wendet sich König Philippe in seiner Ansprache, die sich vor allem an die Angehörigen richtet: „Auf den Hass und die Gewalt habt Ihr mit Würde reagiert. Dem Zweifel und der Furcht habt Ihr Mut und den wunderbaren Willen, wieder aufzubauen, entgegengesetzt.“ Und er ruft zu mehr Toleranz und Nächstenliebe auf: „Lasst es uns wagen, zärtlich zu sein“, rief das Staatsoberhaupt zum Schluss auf.
Eine Bitte, der die Menschen, die sich am Börsenplatz im Stadtzentrum am Mittag versammelt hatten, nachkamen: Sie verteilten „kostenlose Umarmungen“ an Fremde – wie schon vor einem Jahr, als der Platz zur Gedenkstätte wurde, an der Kuscheltiere, Blumen, Kerzen und Briefe niedergelegt worden waren.
Am Nachmittag begann ein Trauermarsch von Molenbeek – jenem Viertel, in das Spuren der Terroristen von Brüssel und auch den Anschlägen von Paris im November 2015 führten – bis zum Börseplatz, wo das Europäische Parlament seinen Sitz hat. Mit weißen Rosen in den Händen gehen die Menschen einen Marsch des Friedens. Es ist ihre Antwort auf den brutalen Akt des Terrors, der hier am 22. März zugeschlagen hat. Und ein trotziger Beweis: Wir leben unser Leben weiter. Die Angst hat an diesem Tag keinen Platz.