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Berlin
Ist er der Mann, der den Terror brachte?
Spurensuche: Mal hieß er Anis, mal Ahmed, mal Mohammed. Mal war er 21, mal 23 Jahre. Der Tunesier galt als islamistischer Gefährder und sollte abgeschoben werden. Nun spricht vieles dafür, dass er für den Anschlag in Berlin verantwortlich ist.
FRANCE-TUNISIA-GERMANY-BERLIN-ATTACK       -  Als „dringend tatverdächtig“ ist Anis Amri jetzt vom Bundeskriminalamt zur Fahndung ausgeschrieben.
Foto: Polizei/afp | Als „dringend tatverdächtig“ ist Anis Amri jetzt vom Bundeskriminalamt zur Fahndung ausgeschrieben.
Martin Ferber
Martin Ferber
 |  aktualisiert: 11.12.2019 10:17 Uhr

Anis Amri war nicht immer Anis Amri, geboren in Tataouine in Tunesien. Wenn es darauf ankam, gab er sich auch mal als Ahmed A. aus, geboren im tunesischen Skendira. Oder als Mohammed H. aus Alexandria. Und er konnte nicht nur unbemerkt seine Identitäten ändern, auch über sein Alter machte er unterschiedliche Angaben. Mal war er 21 Jahre alt, mal 23 Jahre. Nur so viel scheint klar zu sein: Im Juli 2015 ist der Mann über Freiburg nach Deutschland eingereist. Sein Antrag auf Asyl wurde elf Monate später abgelehnt. Doch abgeschoben werden konnte er nicht. Seit April diesen Jahres war er im Besitz einer Duldung, ausgestellt im nordrhein-westfälischen Landkreis Kleve. Offiziell gemeldet war er in einer Asylunterkunft in Emmerich am Rhein. Sein Lebensmittelpunkt aber war seit Februar 2016 Berlin.

Diese Duldungsbescheinigung spielt nun eine entscheidende Rolle bei der Aufklärung des Terroranschlags von Berlin, bei dem am Montagabend zwölf Menschen auf dem Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche getötet und 49 weitere verletzt wurden, davon 14 schwer. Denn das Dokument tauchte ausgerechnet im Fahrerhaus des Sattelschleppers auf, mit dem der Täter in die Budenstraße gerast war. Allerdings wollen Sicherheitskreise nicht ausschließen, dass es möglicherweise von einem Dritten dort mit Absicht hinterlassen wurden, um eine falsche Fährte zu legen.

Der tatverdächtige Tunesier ist polizeibekannt

Der Polizei ist Anis Amri, der sich abwechselnd in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und in Berlin aufhielt, allerdings kein Unbekannter; gegen ihn wurde nicht nur wegen Körperverletzung und gefährlicher Körperverletzung ermittelt. Nach Erkenntnissen des gemeinsamen Terrorabwehrzentrums von Bund und Ländern galt er auch als sogenannter Gefährder, als radikaler Extremist, dem jederzeit ein Anschlag zugetraut wurde. Wie der nordrhein-westfälische Innenministers Ralf Jäger sagt, sollte er abgeschoben werden, nachdem das Landeskriminalamt ein Verfahren gegen ihn wegen des Verdachts einer schweren staatsgefährdenden Straftat eingeleitet hatte. Doch das scheiterte, weil der Mann keine gültigen Ausweispapiere hatte. Zugleich bestritt Tunesien, dass Anis Amri ein Tunesier sei. Ersatzpapiere wurden bei den dortigen Behörden beantragt. Doch diese kamen erst am Mittwoch an – zwei Tage nach dem verheerenden Anschlag.

Anis Amri hatte intensive Kontakte zum Netzwerk des irakischstämmigen islamischen Predigers Abu Walaa, der in Hildesheim Kopf einer salafistischen Gruppe war und junge Männer für den „Islamischen Staat“ (IS) anwarb. Am 8. November war Abu Walaa wegen des Vorwurfs der Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung festgenommen worden. Auch in Kleve gibt es ein salafistisches Zentrum. Zudem prüfen die Ermittler, welche Kontakte der Tunesier in Berlin hatte, in welchen Kreisen er verkehrte und wer ihn möglicherweise bei dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt unterstützte.

Anis Amri war seit mehreren Wochen untergetaucht. Um Mitternacht wurde er in Deutschland und im Schengen-Raum zur Fahndung ausgeschrieben, zunächst verdeckt, schließlich öffentlich. Am Mittwochmachmittag durchsuchten rund 150 schwer bewaffnete Polizisten die Flüchtlingsunterkunft in Emmerich, in der er gemeldet war.

Ermittler sehen auffällige Parallelen zum Fall von Tarik B. Der Tunesier war im Alter von 24 Jahren im vergangenen Januar in Paris von der Polizei erschossen worden, als er Polizisten mit einem Schlachterbeil angriff. Der Asylbewerber kam damals aus einer Unterkunft in Recklinghausen. Er hatte in sieben europäischen Ländern Asylanträge gestellt und 20 verschiedene Identitäten vorgetäuscht.

Gleichzeitig mühte sich die Polizei, die Spuren im Tatfahrzeug auszuwerten und zu rekonstruieren, wie es zu dem Anschlag kommen konnte. Vieles spricht dafür, dass es ein schrecklicher Zufall war, dass der Täter ausgerechnet den Sattelschlepper des polnischen Spediteurs Ariel Zurawski aus der Nähe von Stettin als Tatwaffe missbrauchte.

„Die Menschen sollen spüren, dass sie nicht allein sind.“

Bundespräsident Joachim Gauck nach einem Besuch bei den Verletzten des Anschlags

Denn eigentlich sollte der 37-jährige Fahrer Lukasz U. erst am Dienstagmorgen seine Ladung, 25 Tonnen Baustahl aus Turin, bei ThyssenKrupp am Berliner Westhafen in Moabit abliefern. Aber Lukasz U. war zu schnell. Er erreichte schon am Montagnachmittag sein Ziel und musste den Sattelschlepper am Straßenrand abstellen, weil alle Parkplätze auf dem Firmengelände belegt waren.

Das wurde dem Fahrer zum Verhängnis. Denn der mutmaßliche Täter brachte am Montag gegen 15.30 Uhr das Fahrzeug samt Fahrer in seine Gewalt. Als seine Ehefrau Lukasz U. um 16 Uhr anrufen wollte, war er schon nicht mehr zu erreichen. Nach den GPS-Daten wurde der Laster um 15.44 Uhr, um 16.52 Uhr und um 16.37 Uhr gestartet, ohne sich zu bewegen. Um 19.34 Uhr fuhr der Sattelschlepper schließlich an der ThyssenKrupp-Niederlassung los und machte sich auf den Weg zum Breitscheidplatz. Einmal verfuhr sich der Mann am Steuer und musste in einer Seitenstraße wenden. Für die 5,5 Kilometer lange Strecke brauchte er 28 Minuten, um 20.02 Uhr erreichte er den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche.

Dramatische Szenen im Fahrerhaus des Sattelschleppers

Im Fahrerhaus müssen sich währenddessen dramatisch Szenen abgespielt haben. Als der 40-Tonner ungebremst und mit ausgeschalteten Lichtern in die Budenstraße des Weihnachtsmarktes raste, war der 37-jährige Pole noch am Leben. Dies hat die Obduktion ergeben. Erst als das Fahrzeug zum Stehen kam, wurde Lukasz U. mit einer kleinkalibrigen Waffe erschossen. Zuvor muss es, wie die Polizei aus den Spuren im Führerhaus schließen konnte, noch einen Kampf zwischen den beiden Männern. Der Pole wurde dabei durch mehrere Messerstiche schwer verletzt und verlor viel Blut.

Die Ermittler wollen nicht ausschließen, dass er zuvor noch versucht hatte, ins Lenkrad zu greifen und die Fahrtrichtung zu ändern. Dies würde erklären, warum der Sattelschlepper, der mit Tempo 65 in den Weihnachtsmarkt donnerte, nicht geradeaus weiterfuhr, sondern nach rund 80 Metern scharf nach links abbog und wieder auf der Budapester Straße zum Stehen kam.

Viel spreche dafür, heißt es in Sicherheitskreisen, dass der Mann durch sein Eingreifen ein noch größeres Blutbad verhinderte. Der Täter verließ das Führerhaus und konnte unerkannt in dem Chaos, das er angerichtet hatte, fliehen. Möglicherweise wurde auch er bei dem Kampf verletzt, die Polizei fand im Fahrerhaus Blutspuren. Die Waffe konnte bislang noch nicht gefunden werden. Einen ersten mutmaßlichen Täter, einen 23-jährigen Flüchtling aus Pakistan, den ein Augenzeuge durch den Berliner Tiergarten verfolgt hatte, hatte die Bundesanwaltschaft am Dienstagabend wieder freigelassen. Eine Beteiligung an dem Anschlag konnte ihm nicht nachgewiesen werden.

Der Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz öffnet wieder

In Berlin normalisierte sich das Leben am Mittwoch wieder weitestgehend. Die Weihnachtsmärkte, die tags zuvor noch geschlossen hatten, öffneten wieder – allerdings mit großen Betonsperren als zusätzlicher Sicherung. Nur der Markt am Breitscheidplatz blieb noch geschlossen, erst am heutigen Donnerstag um 11 Uhr soll sich das ändern. Dort spielten sich am Mittwoch bewegende Szenen ab. Berliner und Touristen legten rund um das abgeriegelte Gelände Blumen und Kerzen nieder. In der Gedächtniskirche versammelten sich die Trauernden, um zu beten, innezuhalten oder einfach nur, um eine Kerze zu entzünden. Am Nachmittag gab der Chor der Gedächtniskirche gemeinsam mit Flüchtlingen ein kleines Konzert in der Nähe des Anschlagsortes. Das Motto: „Berlin hält zusammen“.

Bundespräsident Joachim Gauck besuchte am Mittwochvormittag die Verletzten in der Berliner Charité und sprach ihnen Mut zu. „Die Menschen sollen spüren, dass sie nicht allein sind“, sagte er hinterher. Darunter habe sich ein Mann befunden, der verletzt wurde, weil er geholfen habe. Der Mann, so Gauck, sei bei der Rettung von Opfern von einem herabstürzenden Balken im Genick getroffen worden. „Wäre er am Rande stehen geblieben und hätte er Handy-Aufnahmen gemacht, wäre ihm nichts geschehen.“ Gauck dankte Ärzten und Pflegekräften.

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