Die Bilder vom Gaza-Krieg scheinen eine eindeutige Geschichte zu erzählen: Tod und Zerstörung bei den Palästinensern, während in Israel dank Raketenabwehr fast Normalität herrscht. Doch wer an der Fassade von Israels Alltag kratzt, entdeckt auch hier das Trauma des Kriegs: Zehntausende sind seit Wochen vor dem Raketenbeschuss der Hamas auf der Flucht, Hunderttausende traumatisiert.
Sogar im Sommer sieht es hier gar nicht aus wie man sich ein Krisengebiet vorstellt: Zwar blüht in den Feldern zwischen den israelischen Dörfern Sufa und Nir Yitzchak keine Iris oder Chrysantheme mehr, doch hinter grünen Ackern rascheln Zypressen und Eukalyptusbäume im Wind. Fast idyllisch, wären da nicht die Straßensperren auf dem Weg hierher, an denen außer den Bewohnern niemand mehr hindurch darf: Das Grenzgebiet rund um Gaza ist militärisches Sperrgebiet. Was wohl der Grund ist, dass die Bewohner dieses Landstrichs, die als einzige durch die Straßensperren dürfen, die Straße nur in eine Richtung nutzen: Weg von hier. „Rund 70 Prozent der Einwohner haben ihr Heim verlassen, schon vor Wochen“, sagt Ronit Minker, Sprecherin des Landkreises Eschkol, der rund ein Viertel des Beschuss aus Gaza abbekommt – 470 Geschosse seit dem 8. Juli. Hier ist das besonders gefährlich, denn „im Gegensatz zum Rest Israels sind wir so nah an Gaza, dass es für uns weder eine Vorwarnung noch eine Abwehr gibt. Entweder man wird getroffen oder überlebt“, sagt Minker. Dass hier bislang hauptsächlich Sachschäden entstanden, habe man purem Glück zu verdanken.
Im Gegensatz zum Gazastreifen gibt es in Israel keine offiziellen Statistiken über Flüchtlinge. Organisierte Massenflucht wie im Landkreis Shaar Hanegev, wo der Landrat Familien mit Kindern in andere Gegenden Israels verfrachtete, sind selten. Manche verlassen sich auf unzählige Bürgerinitiativen, die sich auf Facebook organisiert haben, um Menschen aus Südisrael aufzunehmen. Aber die meisten packen spontan ihre Sachen und fahren zu Verwandten oder Freunden.
Wie O., die ihren Nachwuchs für eine Woche zu ihrer Schwester in den Norden des Landes schickte. Dabei wohnt sie nur 20 Autominuten von Tel Aviv entfernt, weitab vom Gazastreifen. Doch es fiel ihr immer schwerer, ihre vier Kinder innerhalb von 60 Sekunden bei Luftalarm in der Nacht in den Bunker zu hetzen. Vor allem, weil sie allein ist. Ihr Ehemann wurde gleich zu Beginn des Kriegs mobilisiert. Seither hat sie kaum Kontakt zu ihm: „Wir können nur alle zwei bis drei Tage telefonieren. Er ruft nur an, um mir zu sagen, dass er noch lebt, dann muss er auflegen“, sagt die 42-jährige Architektin.
O. sorgt sich um ihre Kinder: „Mein großer Sohn (14) holt jeden Morgen die Zeitung ins Haus, wo die Bilder der gefallenen Soldaten stehen. Er sucht nach Papas Bild“, sagt sie. Seine kleine Schwester schaut zu, und sagt manchmal: „Guck mal, ist das nicht Papi?“ O. selbst ringt mit ihren Ängsten, hört rund um die Uhr Nachrichten.
Genau wie Sharon Z. So erfuhr sie vom Einsatz ihres 20-jährigen Sohnes: „Er durfte tagelang nicht mit uns telefonieren. Dann las ich im Internet, dass ein Kamerad aus seiner Einheit gefallen war. Ich verstand: Auch mein Sohn ist drin! Ich habe einfach geschrien vor Angst. Ich dachte, es wäre das Ende der Welt.“ Seither fällt es ihr schwer, nach Hause zu kommen. „Jedes Mal, wenn ich in unsere Straße einbiege, bekomme ich Herzklopfen. Ich habe Angst, vor unserer Haustür Soldaten zu sehen, die uns eine schreckliche Botschaft übermitteln wollen.“ In den letzten Wochen hat ihr Mann nur einmal mit dem Sohn sprechen können. „Frag keine Fragen, alles in Ordnung. Ich lebe noch“, war alles, was er sagen konnte. Vergangenen Freitag flüchtete Sharon wieder bei Raketenalarm in den Bunker: „Als ich das Bumm draußen hörte, als die Rakete abgefangen wurde, überfiel mich der Gedanke: Mein Gott, mein Sohn hört das die ganze Zeit!“
Beide Frauen kennen die Bilder aus Gaza. O. hat nicht die Kraft, um über das Leid auf der anderen Seite nachzudenken: „Ich versuche nur zu überleben. Für etwas anderes habe ich jetzt keine Reserven“, sagt sie. Sharon denkt hingegen oft über „die armen Menschen auf der anderen Seite nach“. In ihrer Angst fragt sie sich manchmal: „Warum bombardieren wir den Landstrich nicht einfach in Grund und Boden? Dann wäre mein Sohn nicht gezwungen, dort sein Leben zu riskieren. Aber dann sage ich mir: Nein, es gibt dort auch Unschuldige. Letztlich bin ich stolz darauf, dass mein Staat nicht so handelt. Auch wenn wir dafür einen schweren Preis zahlen.“