Hätte Suheir Qaisi Freitagnachmittag besser hingehört, hätte er vielleicht sein Leben retten können. Vor seinem Tod sollen israelische Aufklärungsdrohnen im Himmel von Gaza über seinem blauen VW Lupo gesummt haben. Kurz darauf war es bereits zu spät: Eine Rakete zischte in den hinteren Teil seines Wagens, die Wucht der Explosion tötete den Anführer der Volkswiderstandskomitees (Popular Resistance Committees – PRC) und seinen Beifahrer Ahmad Hanini, ein weiterer hochrangiger Kommandant der PRC. Eine neue Runde der Gewalt rund um den Gazastreifen hatte begonnen.
„Terrorgenie“
Qaisi sei ein „Terrorgenie“ gewesen, begründete Premier Benjamin Netanjahu den Präventivschlag in der Kabinettssitzung am Sonntag. Er habe „sich in der letzten Planungsphase für ein großes Attentat“ befunden. Im vergangenen August, so behauptet Israel, organisierte Qaisis Vorgänger einen schweren Anschlag an Israels Grenze zum Sinai, bei dem acht Israelis ermordet wurden. Israel hatte ihn kurz darauf ebenfalls mit einem Luftangriff getötet. Nun habe Qaisi den „Erfolg“ vom vergangenen Jahr wiederholen wollen.
Die Ereignisse nahmen sofort ihren bekannten Lauf: Die PRC schwörte Rache und hielt Wort, der Islamische Dschihad, eine weitere Terrororganisation in Gaza, machte sofort mit. Seit Freitag schossen sie mehr als 130 Raketen auf israelische Ballungszentren. Dabei wurden mindestens 15 Israelis verletzt. Israel reagierte mit Luftangriffen auf Terrorzellen und leere Ausbildungslager. Dabei kamen laut palästinensischen Angaben 20 Menschen ums Leben, 19 davon bewaffnete Aktivisten verschiedener Widerstandsgruppen. Ein zwölf Jahre alter Junge kam ebenfalls bei einem Angriff ums Leben. Eine Quelle im israelischen Militär behauptete gegenüber unserer Zeitung, dass der Junge in der Nähe einer Terrorzelle gestanden habe und zuschaute, wie die Aktivisten Raketen für den Abschuss vorbereiteten.
Auf israelischer Seite herrscht seither Ausnahmezustand: Im Süden des Landes haben wegen des Beschusses rund 200 000 Schüler schulfrei. Statt in Klassen zu sitzen, wurden sie angewiesen, sich in der Nähe von Schutzräumen aufzuhalten. Immer wieder heulen in Israels Städten Luftschutzsirenen auf. Dann bleiben zwischen 15 und 45 Sekunden, um sich in Sicherheit zu bringen: „Die Lage in Beer Scheba ist unhaltbar“, sagte die stellvertretende Bürgermeisterin Hefzi Sohar. „In unseren Schulen gibt es nicht genügend Schutzräume. Das Leben ist zum Stillstand gekommen.“
Kein Interesse an Eskalation
Vorerst gelingt es beiden Seiten nicht, die Eskalation aufzuhalten. Sie bekunden zwar, am Waffenstillstand festhalten zu wollen: „Israel hat kein Interesse an einer Eskalation“, sagte Generalstabchef Benni Gantz, betonte jedoch, dass man auf Beschuss hart reagieren werde. Ismail Haniyah, der als Premier der radikal-islamischen Hamas den Gazastreifen seit einem blutigen Putsch 2007 regiert, erklärte in einer Verlautbarung: „Unsere höchste Priorität ist es, Israels Aggression zu stoppen und palästinensische Zivilisten zu schützen.“ Bisher schoss die Hamas, die in Gaza über das größte Arsenal verfügt, keine Raketen auf Israel ab. Ägypten schaltete sich als Vermittler ein, noch am Samstag traf eine hochrangige Hamasdelegation zu Gesprächen in Kairo ein.
Doch die Entscheidung, ob an der Grenze zwischen Israel und Gaza Ruhe herrscht oder aus Scharmützeln ein ausgewachsener Krieg wird, liegt in Händen des Islamischen Dschihad und des PRC. Sie wollen die Machthaber der Hamas – ihr politischer Rivale – mit Angriffen auf Israel und den darauf folgenden Vergeltungsschlägen kompromittieren. Mit kaum verhüllter Geringschätzung äußerte ein Sprecher der PRC am Sonntag seine Enttäuschung darüber, dass „nur wir und der Jihad Raketen auf Israel abschießen. Was macht Widerstand für einen Sinn, wenn nicht alle mitmachen?“ Seine Organisation sorgt dafür, dass auch in Ruhephasen rund um den Gazastreifen kein Frieden herrscht. Seit Januar 2011 schossen die PRC und der Dschihad laut israelischen Angaben mehr als 415 Raketen und 244 Mörsergranaten auf israelische Ballungszentren ab.
Das erzeugt auf israelischer Seite politischen Druck. Die Regierung sieht sich gezwungen zurückzuschlagen, um ihre Abschreckung zu erhalten und der Bevölkerung zu zeigen, dass sie etwas für ihre Sicherheit unternimmt. Doch die Einführung einer neuen Waffe – der „Iron-Dome“-Raketenabwehr – könnte dabei helfen, den Teufelskreis der Gewalt zu unterbrechen.
Hoch entwickeltes Radarsystem
Schon vor wenigen Monaten stationierte die Armee in Israels Süden drei Einheiten der Raketenabwehr, die Kurzstreckenraketen mit Reichweiten zwischen vier und 70 Kilometer aus dem Himmel schießen und Todesopfer auf israelischer Seite verhindern sollen. Das Radar ist so differenziert, dass nur Raketen abgeschossen werden, die über Wohnorten niedergehen. Geschosse, die auf Felder fallen, lässt Iron Dome passieren, um Geld zu sparen. Eine Abfangrakete vom Typ „Tamir“ kostet angeblich rund 70 000 Dollar.
Beim neusten Schlagabtausch übertraf die Raketenabwehr alle Erwartungen: „Bisher gelang es uns, 37 von 43 Raketen abzuschießen“, sagte Armeesprecher Arye Shalicar unserer Zeitung, eine Rate von über 85 Prozent. Selbst Kritiker der Raketenabwehr, wie der Militärexperte Reuven Pedazur, der bisher behauptete, Iron Dome werde sich als gewaltiger Fehlschlag erweisen, sind überrascht: „Wenn diese Angaben stimmen, handelt es sich um einen Riesenerfolg.“ So könnte Rüstung helfen, einen Krieg in Gaza zu verhindern. Solange in Israel keine Zivilisten durch Raketenangriffe sterben, kann die Regierung die Forderungen nach einem Einmarsch in Gaza abwehren. Verteidigungsminister Ehud Barak forderte, Iron Dome zu einem „nationalen Notstandsprojekt“ zu erklären. Bis Mitte 2013 sollen sechs weitere Batterien erstanden werden, um Bürgern an der Nord- und Südgrenze gleichzeitig Schutz vor Raketenbeschuss bieten zu können.