Die Integration von 14 Millionen Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg gilt als große Leistung der deutschen Nachkriegsgesellschaft – in West und Ost. Können die Erfahrungen von damals Vorbild für heute sein, wenn Zehntausende Menschen aus dem Nahen Osten oder Afrika in Europa – und damit auch in Deutschland – Zuflucht suchen? Matthias Stickler, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Würzburg, hat ausgiebig über Flucht und Vertreibung und die Folgen in den 40er, 50er und 60er Jahren geforscht. Die Integration der Vertriebenen damals, so sagt der 47-Jährige, sprenge im Rückblick „jede Vorstellung“. Dass sie gelang, sei gleichwohl „kein Wunder“, sondern das Ergebnis „harter Arbeit“. Und diese sei auch heute im Umgang mit Flüchtlingen, aber auch anderen Migranten gefordert. Laut Statistik wandern aktuell rund eine Million Menschen jedes Jahr nach Deutschland ein, darunter 200 000 Asylbewerber.
Migrant? Vertriebener? Flüchtling? Über die richtige Begrifflichkeit wurde schon nach 1945 diskutiert, weiß Historiker Stickler. Zunächst sei damals von Flüchtlingen (englisch „refugees“) die Rede gewesen, doch die Alliierten hätten diesen Begriff abgelehnt, weil er implizierte, dass die Menschen eines Tages in die Heimat zurückkehren. Da dies für die Besatzungsmächte keine wirkliche Option war, setzten die Amerikaner im Westen den Begriff Vertriebene („expellees“) durch, den die Betroffenen schließlich übernahmen. In der Ostzone indes durfte man nicht von Vertriebenen reden, um die östlichen, sozialistischen Bruderstaaten nicht zu verprellen. Dort sprach man von „Umsiedlern“ – ein „Euphemismus“, wie Stickler unterstreicht.
Manche Einheimische urteilten noch viel schlichter. Da waren die ankommenden Schlesier, Sudetendeutsche und Ostpreußen schnell mal alle „Polacken“. Sie hätten sich gewundert, „wie gut wir Deutsch sprechen“, haben Zeitzeugen dem Professor erzählt. Die Gesellschaft im Westen des Deutschen Reiches wusste oft nur wenig über den Osten – ein guter Nährboden für allerlei Vorurteile. Zumal die kulturellen Unterschiede tatsächlich groß waren, nicht zuletzt wegen der unterschiedlichen „konfessionellen Prägung“ der deutschen Länder. Protestanten aus Pommern und Ostpreußen waren oftmals eine Herausforderung für gut katholische, altbayerische Dörfer, katholische Oberschlesier für protestantische Franken. „Konfessionelle Heterogenität“ (Stickler) mussten die Menschen vielfach erst lernen. Und sie lernten – zwangsläufig. Letztlich sei eine „Neukonstruktion der deutschen Gesellschaft“ gelungen, so der Historiker. Erfahrungen, die man durchaus in Erinnerung rufen darf, wenn es heute gilt, Moslems mit ihrer Religion und ihren Bräuchen zu begegnen.
Ein unter Einheimischen verbreitetes Vorurteil lautete, den Vertriebenen seien seitens des Staats allerlei (Sozial-)Leistungen zugeschustert worden. Gefährlicher Zündstoff in einer Zeit, in der ein ganzes Land am Boden lag. Im „Lastenausgleich“ wurden die materiellen Verluste in der „alten Heimat“ zwar nicht entschädigt, aber die Betroffenen erhielten eine Art Starthilfe. Zweifel an der Glaubwürdigkeit von deren Angaben sorgten oft für böses Blut, schließlich wurden die Einheimischen für die Zahlungen „je nach ihrer Leistungsfähigkeit“ zur Kasse gebeten – und mussten notfalls Hypotheken auf ihren Grundbesitz aufnehmen. Stickler: „Das ist, bei allen Unterschieden in der Dimension, vergleichbar mit dem Solidaritätszuschlag nach der Wiedervereinigung.“ Oder den Leistungen für Asylbewerber heute. Klar, dass sich im Lauf der Jahre die Ansprüche gewandelt haben. Care-Pakete waren für Menschen in der Nachkriegszeit etwas Großartiges, heute werden Essenspakete für Flüchtlinge schnell als Zumutung empfunden.
Wenn Bürgermeister oder Landräte heute darüber nachdenken, Kasernen oder Schulturnhallen zu beschlagnahmen, um Asylbewerber unterzubringen, erinnert das Stickler auch an die Zeit nach 1945, allerdings waren die Maßnahmen damals viel rigider. „Die Einheimischen haben anfangs Flüchtlinge einfach in ihre Wohnung zugeteilt bekommen.“ Die Erfahrungen sind so unterschiedlich wie die Menschen. Es gibt Vertriebene, die erinnern sich an schreckliche Momente, etwa wie sie als Kinder bespuckt wurden, andere aber auch an viel Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft.
Sicher ist, die Gesellschaft damals, traumatisiert vom verlorenen Krieg und der sich allmählich breitmachenden Wahrheit über die Hitler-Jahre, war gezwungen, zusammenzurücken. Heute gibt es mehr zu verteilen – und zu verlieren. Zum Vorbild taugen die Erfahrungen der Nachkriegszeit gleichwohl – auch in der Politik. Zwar fühlten sich die Vertriebenen vor allem bei der Adenauer-CDU aufgehoben, aber auch SPD und FDP und seit Mitte der 50er Jahre die CSU, machten ihr Schicksal zum Thema und sorgten für entsprechenden Ausgleich. Die Vertriebenenpartei „Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE) war lediglich ein vorübergehendes Phänomen, eine Radikalisierung sei ausgeblieben, so Stickler. Gut also, wenn man das Schicksal von Flüchtlingen auch heute besonnen und unter Verzicht auf Stammtischparolen diskutiert – und parteiübergreifend Lösungen findet.
Was aber kann die Politik konkret tun, um im Umgang mit Flüchtlingen und anderen Migranten eine ähnliche Erfolgsgeschichte wie nach dem Zweiten Weltkrieg zu schreiben? Strickler sagt, der erste Schritt sei die Einsicht, dass Deutschland de facto ein Einwanderungsland ist – verbunden mit der Erkenntnis, dass wir aus demografischen Gründen Zuwanderung brauchen, um unseren Wohlstand zu sichern. Eine „aktive Migrationspolitik“ könne beispielsweise Berufsgruppen festschreiben, deren Gewinnung „besonders notwendig“ erscheint. Asylbewerber könne man ebenfalls entsprechend qualifizieren.
Allerdings gibt Stickler auch zu bedenken, man dürfe die Integrationsbereitschaft der Bevölkerung nicht überstrapazieren. Und man dürfe nicht vergessen, dass Integration immer ein „zweiseitiger Prozess“ sei, der Einheimischen und Zuwanderern Anpassungsleistungen abverlange. Abgeschottete Parallelgesellschaften gelte es zu vermeiden. Dass nach 1945 Parallelgesellschaften bei den Vertriebenen nicht entstanden, ist auch eine Folge der Integrationsleistung der frühen Bundesrepublik. Viele Menschen haben damals gelernt, dass es sich lohnt, trotz unterschiedlicher Herkunft miteinander anzupacken.
Matthias Stickler
Der Historiker ist seit 2010 Professor am Institut für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Würzburg. Matthias Stickler, ein gebürtiger Aschaffenburger, hat bereits in Würzburg Geschichte, Germanistik und Soziologie studiert, er wurde dort auch promoviert und habilitiert. Hauptforschungsgebiete des 47-Jährigen sind Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Mittel- und Osteuropa und ihre Integration in Westdeutschland. Stickler ist Mitglied im wissenschaftlichen Beraterkreis der Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. micz/Foto: privat