Die Rakete vom Typ Agni V schoss am Donnerstag in den blauen Morgenhimmel vor der ostindischen Küste. Bald danach erklärte die Regierung in Neu Delhi, der erste Test einer atomwaffenfähigen Interkontinentalrakete aus eigener Produktion sei erfolgreich verlaufen. Euphorie brach sich Bahn. „Der Traum der Nation ist Wirklichkeit geworden“, verkündeten die sonst eher nüchternen Wissenschaftler, die die Agni (auf Deutsch: Feuer) entwickelt haben. Nachrichtensender schwärmten in Anlehnung an den Namen der Rakete, Indien habe die „Feuerprobe“ bestanden.
Die Agni V beschert der südasiatischen Atommacht die Mitgliedschaft in einem elitären Club. Bisher wusste man nur von den ständigen Mitgliedern im Weltsicherheitsrat, dass sie solche Langstreckenraketen besitzen. Nun steht Indien in einer Reihe mit den USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und – aus Sicht Neu Delhis besonders wichtig – dem Rivalen China.
Die bisher produzierten Agni I bis IV können Sprengköpfe maximal 3500 Kilometer weit tragen. Damit ist bereits der benachbarte Erzfeind Pakistan abgedeckt. Zwar kann die Agni V mit einer Reichweite von 5000 Kilometern nun theoretisch auch Ziele in Europa oder Afrika ins Visier nehmen, doch darum ging es den Indern nicht.
Neu Delhi verkündete schon vor dem Test, die Agni V diene nur der Abschreckung und sei nicht mit Blick auf ein bestimmtes Land entwickelt worden. Doch es ist kein Geheimnis, dass es um China geht. Erstmals können die Inder alle Ziele beim großen Nachbarn treffen. „Die Agni-Raketenserie, inklusive der Agni V, ist entscheidend für Indiens Verteidigung gegenüber China“, meint NDTV. Schließlich habe Peking „in jüngster Zeit den Einsatz erhöht“, indem es Raketen in Tibet stationiert habe – und Tibet grenzt an Indien an.
Aus Sicht chinesischer Experten ist der Test ein Versuch, die militärische Kluft zu China zu überwinden. Wegen dessen militärischer Überlegenheit geben sich chinesische Experten allerdings demonstrativ gelassen. „Militärisch hat China keine Angst vor dem indischen Raketentest“, sagte Professor Cheng Xiaohe von der Volksuniversität (Renmin Daxue) in Peking der Nachrichtenagentur dpa.
„Auch wenn sie (die indische Regierung, Anmerkung der Redaktion) jetzt mit der Rakete gerüstet sind, ist es nicht wirklich eine militärische Bedrohung für China.“ Immerhin besitzt die Volksrepublik schon lange ein beträchtliches Atomraketenarsenal und somit ein entsprechendes Abschreckungspotenzial. „Egal ob bei atomaren oder konventionellen Waffen, Indien hinkt China hinterher“, sagte Cheng Xiaohe. „In absehbarer Zeit, werden sie China nicht einholen. Vielleicht wird der Abstand eher größer.“
„Indien sollte seine Stärke nicht überschätzen“, schlug ein Kommentar in der nationalistischen Zeitung „Global Times“ deutlichere Töne an. „Selbst wenn sie eine Rakete haben, die fast alle Teile Chinas erreicht, heißt das nicht, dass sie etwas gewinnen, wenn sie in Streitigkeiten mit China arrogant auftreten“, schrieb das Blatt, das dem kommunistischen Parteiorgan „Volkszeitung“ gehört.
Das Außenministerium in Peking spielte die Rivalität mit Indien jedoch herunter und gab sich demonstrativ zurückhaltend: „Wir sind nicht Konkurrenten, sondern Kooperationspartner.“ Nach Ansicht von Professor Cheng Xiaohe ist China in seiner Verteidigungspolitik auch gar nicht so sehr auf Indien fokussiert, sondern vielmehr auf die USA. „Wir nehmen Indien nicht als imaginären Feind wahr, sondern betrachten die USA als starken und wirklichen Gegner.“
Doch Indien empfindet China sehr wohl als Bedrohung – auch wenn die wirtschaftliche Zusammenarbeit boomt.
Für die Agni V griff Neu Delhi tief in die Tasche. Fast eine halbe Milliarde Dollar ließen die Inder sich die Entwicklung der Interkontinentalrakete kosten – während immer noch jeder vierte der 1,2 Milliarden Einwohner des Landes in Armut lebt.
Die Atommächte der Welt
Neben USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China gelten auch Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea als Besitzer nuklearer Sprengköpfe. Nach Schätzung der Federation of American Scientists gibt es weltweit 19 500 Sprengköpfe, von denen 4830 einsatzbereit sind. Russland: 10 000 Sprengköpfe (2430 davon einsatzbereit) USA: 8500 (1950), Frankreich: 300 (290), China: 240 (unbekannt) Großbritannien: 225 (160), Pakistan: 90 bis 110 (unbek.), Indien: 80 bis 110 (unbek.) Israel: 80 (unbek.) Nordkorea: weniger als 10 (unbek.)