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FUKUSHIMA
In Fukushima herrscht die Angst vor dem Vergessen
reda
 |  aktualisiert: 24.05.2022 09:40 Uhr

Zwischen umgestürzten Glasvitrinen, verwüsteten Regalen und einem Chaos an Unterlagen tastet sich Yuichi Harada mit einer Taschenlampe durch seinen abgedunkelten Laden. „Hier, wieder eine Ratte.“ Der 64-jährige Japaner hebt die Falle mit dem toten Tier auf und vergräbt beides wenig später draußen zwischen meterhohem Unkraut. Bis vor drei Jahren war dies Haradas Zuhause. Hier lebte er mit seiner Familie vom Handel mit Brillen, Uhren und Schmuck. Doch die Geschichte seines Geschäftes endete jäh am 11. März 2011. Jenem Tag, als ein Erdbeben und ein Tsunami seinen Heimatort Namie heimsuchten und es in dem nur einen Steinwurf entfernten Atomkraftwerk Fukushima Daiichi zum schwersten Atomunfall seit der Katastrophe von Tschernobyl kam.

Noch heute, drei Jahre nach Beginn der Atomkatastrophe, ist Namie eine Geisterstadt. Die Straßen sind verlassen, hinter verwüsteten Schaufenstern wehen zerschlissene Gardinen wie Wundfetzen im Wind. In weiten Gebieten liegt die Strahlung weiter bei über 50 Millisievert im Jahr und damit weit über der Evakuierungsgrenze von 20 Millisievert. Doch auch in den geringer verstrahlten Sperrzonen der Stadt darf man sich nur mit amtlicher Sondergenehmigung und nur für ein paar Stunden am Tag aufhalten. Wohnen darf hier nach wie vor niemand.

Haradas früherer Nachbar raucht in Ruhe eine Zigarette. Ihre früheren Geschäfts- und Wohnhäuser liegen in einer vergleichsweise niedrig verstrahlten Gegend. Trotzdem ahnen sie, dass sie wohl nie mehr hier werden leben können. Sie kommen nur deswegen noch ab und zu ins Sperrgebiet, um Akten zu holen und nach dem Familiengrab zu schauen. Sonst ruhten ihre Seelen nicht, sagt Harada. „Die Leute hier fürchten nicht die Strahlen, sondern die Nähe zum Atomkraftwerk“, sagt er und zeigt auf die in der Ferne sichtbare Atomruine Fukushima.

„Solange von dort noch ein Risiko ausgeht, will ich hier nicht leben“, sagt Harada. In dem Meiler, der jahrzehntelang das Wohlergehen dieser strukturschwachen bäuerlichen Region sicherte, pumpt der Betreiberkonzern Tepco weiterhin täglich riesige Mengen Wasser in die Reaktoren 1 bis 3, um die geschmolzenen Brennstäbe zu kühlen – von denen bis heute keiner weiß, wo sie sich genau befinden. Bei der Kühlung wird das eingepumpte Wasser radioaktiv verseucht. Da die Reaktorgebäude zudem Risse haben, dringen jeden Tag zusätzlich 400 Tonnen an Grundwasser in die Gebäude. Ein Teil sickert in den Pazifischen Ozean. Tepco will das Wasser in einem geschlossenen Kreislauf weiterverwenden und in Tanks zwischenlagern – mittlerweile mehr als 400 Millionen Liter. Doch die Anlage zur Entfernung von Strahlen bereitet ständig Probleme. Um Geld zu sparen, stellte Tepco zudem Tanks auf, die einfach zusammengenietet wurden – mit der Folge, dass immer wieder Lecks auftreten. Um den Zufluss von Grundwasser zu stoppen, soll nun ein gigantischer unterirdischer Wall aus gefrorener Erde gebaut werden. Ob das Erfolg haben wird, ist jedoch ungewiss.

Doch trotz all der andauernden Probleme und Pfuschereien von Tepco erklärte Ministerpräsident Shinzo Abe kürzlich bei der Bewerbung Tokios um die Olympischen Spiele 2020, die Lage sei „unter Kontrolle“. Die Herren vom Internationalen Olympischen Komitee konnte er damit überzeugen. Harada glaubt jedoch nicht daran. Auch nicht, wenn regierungsnahe Experten ihm versichern, die Niedrigstrahlung sei für Menschen ungefährlich. Derweil lässt der Staat in der Katastrophenregion Millionen von Kubikmetern verstrahlter Erde abtragen. Einigen Bewohnern Namies wurde Hoffnung gemacht, noch im März heimkehren zu dürfen. Da die Dekontaminierung auch aus Mangel an Arbeitskräften aber nicht wie geplant vorankommt, wurden sie auf weitere drei Jahre vertröstet. Und so bleiben die Menschen verstreut auf andere Regionen.

Während die Hauptstadt Tokio, wo die Wähler kürzlich bei der Wahl zum Gouverneur ein klares Plädoyer für den Wiedereinstieg in die Atomkraft abgegeben haben, nachts längst wieder genauso erstrahlt wie vor der Katastrophe, müssen in den Tsunamigebieten noch immer rund 140 000 Opfer in containerähnlichen Behelfsunterkünften hausen. Erschwert wird die Lage dadurch, dass der Wiederaufbau nur schleppend vorankommt. Die Regierung hat zugesagt, diesen zu beschleunigen. Mehr als 100 000 Häuser wurden zerstört. In den vom Tsunami überschwemmten Regionen müssen ganze Orte umgesiedelt werden. Das gestaltet sich jedoch schwierig. Ein weiterer Grund ist der Mangel an Bauarbeitern. Ein Problem, das sich durch die Olympia-Vergabe an Tokio noch verschärfen könnte. Viele Opfer in den Katastrophengebieten befürchten bereits, dass ihr eigenes Schicksal wegen der Spiele noch mehr in Vergessenheit gerät.

Strahlenschutzkommission

Drei Jahre nach der Atomkatastrophe von Fukushima wird ein besserer Katastrophenschutz rund um die deutschen Kernkraftwerke vorbereitet. Dafür liegen neue Empfehlungen der Strahlenschutzkommission vor. Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) sagte am Montag, trotz des endgültigen Atomausstiegs im Jahr 2022 müsse bis dahin die Sicherheitstechnik in den neun restlichen Atommeilern weiterentwickelt werden.

Die Strahlenschutzkommission empfiehlt, im Fall eines schweren Atomunfalls die Anwohner innerhalb von sechs Stunden in einem Umkreis von fünf statt bisher zwei Kilometern in Sicherheit zu bringen. Zudem soll die daran anschließende „Mittelzone“ von zehn auf 20 Kilometer vergrößert werden. Hier würde eine 24-Stunden-Frist gelten. Auch sollen Länderbehörden, die für den Katastrophenschutz zuständig sind, mehr Jodtabletten vorhalten. Diese sättigen die Schilddrüse und verhindern, dass der Körper radioaktives Jod aufnimmt.

Hendricks wird die Ratschläge der Experten, die „äußerst unwahrscheinliche schwere Unfälle berücksichtigen“, an die Innenminister weiterleiten. Zugleich will sie dafür kämpfen, dass in Europa die Notfall-Pläne vereinheitlicht werden, berichtete die „Süddeutsche Zeitung“. Einige Atomkraftwerke stehen in Nachbarländern, nahe der deutschen Grenzen.

Die Grünen fürchten, dass die Verbesserungen erst in einigen Jahren in die Praxis umgesetzt werden. „Geht es in dem bisherigen Schneckentempo weiter, ist der nukleare Katastrophenschutz erst funktionstüchtig, nach- dem die letzten deutschen AKW abgeschaltet sind“, sagte die atompolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion, Sylvia Kotting-Uhl.

Text: dpa

 
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