Es passt so gar nicht zusammen, was Ahmad sagt und wie er es sagt. Jungenhaft und verschmitzt lächelt er und fährt sich verlegen durch den dichten, schwarzen Haarschopf, während er erzählt, wie schlecht er schläft. „Meistens lege ich mich erst morgens hin, wenn es hell wird, weil ich nachts am Tunnel bin. Es ist immer laut. Auch im Sommer friere ich.“ Zumindest hat er ein richtiges Zelt, das einer zurückließ, der schon längst weiter ist. Ahmad zeigt es stolz. „Entschuldigung, ich habe nicht aufgeräumt.“ Dabei ist die Unordnung überschaubar: Ein paar Decken liegen da, ein Rucksack, eine Plastikschüssel, aus der er gegessen hat. Sein ganzer Besitz. „Nein, das alles ist nicht einfach“, sagt er. Und lächelt.
Als Ahmad vor fünf Jahren seine Familie in Afghanistan verlassen hat, wollte er ein besseres Leben in Europa suchen. Da war er gerade 14 Jahre alt. Er ist das zweite von fünf Kindern, seine ältere Schwester gab ihm Geld für die Reise, die ihn vom Iran über die Türkei, Griechenland, Italien und Frankreich bis nach Belgien führte, wo er zwei Jahre lang arbeitete. Vor ein paar Wochen kam er nach Calais, weil er nach Großbritannien will.
„Dort kann ich Arbeit finden und mir etwas aufbauen“, hofft er. Weil hier der Eurotunnel und Fähren über den Ärmelkanal das europäische Festland mit der britischen Insel verbinden, ist die nordfranzösische Hafenstadt schon seit Jahren eine wichtige Durchgangsstelle für Flüchtlinge vor allem aus Ländern, in denen Englisch gesprochen oder in der Schule gelehrt wird. Heute stammen die meisten aus dem Sudan, Eritrea, Äthiopien, Syrien und Afghanistan; die große Mehrheit sind junge Männer. Oft haben sie in Großbritannien bereits Verwandte oder Freunde und Arbeit, heißt es, seit dort leichter zu finden. Auch gibt es keine Meldepflicht und Asylgesuche werden schneller bearbeitet und öfter positiv beantwortet.
So stieg innerhalb des letzten Jahres die Zahl derer an, die es ins Vereinigte Königreich zieht. Das wiederum verschärfte die Situation im Flüchtlingslager in Calais, wo die Menschen in improvisierten Zelten und selbst gebauten Hütten hausen. Die Ehrenamtlichen kommen kaum hinterher mit Kleidung, Schuhen, Zelten, Essen, sagt François Guennoc von der Hilfsorganisation „Auberge des Migrants“ („Flüchtlings-Herberge“).
Doch auch er lächelt, während er mit den Schultern zuckt: Es gibt halt immer etwas zu tun. Die Lage habe sich seit Frühjahr zumindest gebessert, wo man das alte Flüchtlingslager, das Dschungel genannt wurde, auflöste und ein neues, 18 Hektar großes Terrain ein paar Kilometer abseits des Stadtzentrums offiziell als Lager anerkannte den Neuen Dschungel . Auch hier liegt überall Müll herum. Doch stellte der Staat ein paar Toiletten, Wasserstellen und Beleuchtung zur Verfügung. Mit EU-Geldern wurde in einem ehemaligen Kinder-Freizeitheim ein Aufnahmezentrum mit 100 Schlafplätzen für Frauen und Kinder errichtet. Tagsüber kann man dort duschen und Handys aufladen, es gibt medizinische Betreuung, regelmäßige Kleider-Ausgaben und einmal täglich werden 2000 warme Mahlzeiten verteilt.
Lange hatten humanitäre Organisationen eine solche Anlaufstelle für ein Minimum an menschenwürdigen Bedingungen gefordert doch die Regierung fürchtete den Vorwurf, auch von britischer Seite, das ziehe noch mehr Flüchtlinge an. Dabei bleibt deren Zahl François Guennoc zufolge relativ konstant bei 2500 bis 3000: Zwar kommen jeden Tag neue Menschen an, doch schaffen viele den Sprung nach Großbritannien. Es liegt ja nur noch rund 30 Kilometer entfernt und doch ist es ein gefährliches Manöver, den Ärmelkanal zu überqueren.
Die meisten Flüchtlinge versuchen es nicht am Fährhafen, sondern am Eurotunnel. Sie warten den Einbruch der Dunkelheit ab, um auf einen Zug aufzuspringen oder sich in einem der Lastwagen zu verstecken. Da deren Fahrern hohe Geldbußen drohen, wenn heimliche Passagiere bei ihnen entdeckt werden, kontrollieren sie streng. Mithilfe von Hunden und Kameras versuchen auch die Ordnungskräfte, die Illegalen aufzuspüren. Eine neue Strategie besteht darin, in Gruppen in den Tunnel und auf die Fahrzeugkolonnen zu stürmen während die Polizei die meisten fasst und mit Tränengas zurückhält, kommen ein paar durch. Aber manche verletzen sich oder bezahlen sogar mit dem Leben: Neun Menschen wurden allein seit Juni überfahren. Das rüttelte die Öffentlichkeit auf. Zumal die Flüchtlinge in der vergangenen Woche Ausgänge des Tunnels blockierten, den Fährbetrieb und den Zugverkehr störten. Eurotunnel-Chef Jacques Gounon beklagte das systematische, massive, vielleicht sogar organisierte Eindringen der Flüchtlinge und fordert von den Regierungen in London und Paris 9,7 Millionen Euro als Entschädigung für die erhöhten Schutzmaßnahmen. Deren Reaktion ist wiederum beeinflusst von der öffentlichen Meinung in ihren Ländern, die den Zustrom von immer mehr Menschen aus den Kriegs- und Krisengebieten der Welt überwiegend ablehnt.
Während ein Teil der britischen Presse der französischen Regierung Versagen vorwirft, steht der britische Premierminister David Cameron beim Thema Einwanderung unter Druck aus den eigenen konservativen Reihen und seitens der rechtspopulistischen Ukip-Partei. Um die Insel als Fluchtziel weniger attraktiv zu machen, soll das Parlament im Herbst schärfere Gesetze gegen Schwarzarbeit und Asylmissbrauch verabschieden. In einem gemeinsamen Brief bezeichneten es die Innenminister beider Länder, Theresa May und Bernard Cazeneuve, als absolute Priorität , die Situation zu entschärfen. Sie verweisen auf die zehn Millionen Euro, die London für weitere Sicherheitsvorkehrungen, darunter die Verstärkung von Zäunen, versprochen hat. Frankreich wiederum habe die Polizeipräsenz um 120 Mann auf fast 550 verstärkt und engagiere sich an der Seite humanitärer Organisationen für einen menschlichen Umgang mit den Flüchtlingen. Das schränkt François Guennoc aber ein. Die Regierung könnte viel mehr tun , sagt er. Aber die Hauptarbeit überlässt sie den rund 200 Ehrenamtlichen aus Calais, die nicht mit ansehen wollen, wie Menschen in ihrer Stadt frieren und hungern. Im Zuge eines neuen Asylgesetzes habe der Innenminister eine schnellere Bearbeitung von Asylanträgen angekündigt.
Heute kann sie ein bis zwei Jahre dauern.Von diesen politischen Debatten bekommen die Bewohner des Neuen Dschungels wenig mit. Aber sie spüren deutlich, dass sie auf keiner Seite des Ärmelkanals willkommen sind und dass sie neuerdings mehr Aufmerksamkeit erhalten. Seit ein paar Tagen ziehen Kamera- und Reporterteams aus ganz Europa an ihren Zelten vorbei. Setz dich, rufen viele von ihnen den Journalisten zu. Sie halten ihnen einen Pappbecher Tee mit viel Milch und Zucker entgegen, eine gekochte Kartoffel oder eine Scheibe Brot, die in klein geschnittene Tomaten und Zwiebeln getunkt wird. Diese Gastfreundschaft mitten im Elend bildet einen bedrückenden Kontrast zu dem Empfang, den die Männer erleben. Ich habe mir Europa als Ort des Glücks vorgestellt, aber man behandelt uns wie Tiere, sagt Mohammed aus Äthiopien. In Italien hat man die Kirchen für uns geöffnet. Hier leben wir im Dreck. In Calais bleiben will er auf keinen Fall.Andere richten sich für länger ein. Rund 500 Asylanträge laufen derzeit in der Stadt. Längst entsteht eine Art dörfliches Leben im Neuen Dschungel : Viele Flüchtlinge sind dort mit einem Fahrrad unterwegs, bauen stabilere Hütten, haben eine Kirche errichtet.
Sie ist mit Teppichböden ausgelegt, im Innenraum brennen Kerzen. Es gibt eine Handvoll Restaurants und ein Dutzend kleiner Läden, in denen Lebensmittel und Getränke verkauft werden.
Und Zimako, ein 25-jähriger Nigerianer, der vor Energie nur so sprüht, hat eine Schule eröffnet, um alle Brüder zusammenzubringen. Lehrer aus Calais unterrichten dort ehrenamtlich Französisch. Zwar legen manchen den Stundenplan eher locker aus , wie Lehrerin Monique es ausdrückt: Aber immerhin kommen sie. Momentan gibt Zimako Interviews am laufenden Band, weil seine Schule für die Medien als positives Beispiel für Eigeninitiative der Flüchtlinge dient.
In dieser Woche haben zwei Schüler den Unterricht verlassen, weil sie nicht gefilmt werden wollten, sagt Zimako. Aber die Journalisten sind wichtig: Nach einem Artikel in der Lokalzeitung kamen allein diese Woche fünf neue Lehrer aus Calais! Er verteilt Flyer, träumt von einer Pressekonferenz, will das Flüchtlingslager umbenennen. Neuer Dschungel, das ist doch kein Name für ein Dorf. Dabei handelt es sich auch nicht um ein Dorf. Sondern immer noch um ein Slum, in dem Menschen verschiedenster Kulturen versuchen, irgendwie zusammenzuleben.
Ansturm auf den Eurotunnel
Das Camp Hunderte Menschen versuchen Nacht für Nacht, die Absperrungen zum Eurotunnel zu überwinden, um von Frankreich nach Großbritannien zu gelangen. Nicht alle der Menschen, die im improvisierten Flüchtlingslager „Neuer Dschungel“ an der Ringstraße um das französische Calais – rund sieben Kilometer vom Gelände des Eurotunnels entfernt – leben, wollen allerdings von dort weg. Viele richteten sich auf einen längeren Aufenthalt ein, schaffen nach und nach eigene Strukturen und machen ihre Geschäfte in dem Camp.
Die Zahlen In Calais leben den Behörden zufolge derzeit rund 3000 Flüchtlinge, die meisten von ihnen stammen aus Eritrea, Äthiopien, Afghanistan und dem Sudan, aber auch aus Syrien. Bei ihren verzweifelten Versuchen, durch den Eurotunnel zu gelangen, verunglückten seit Anfang Juni zehn Migranten tödlich. Nachdem die französische Regierung zahlreiche zusätzliche Polizisten nach Calais geschickt hatte, sank der Andrang zuletzt. Zusätzlich zu den 300 Polizisten vor Ort entsandte Frankreich weitere 120 Beamte.
Ein Eurotunnel-Sprecher erklärte, seither gebe es „deutlich weniger Störungen“. Am Wochenende waren mindestens vier Busse mit Bereitschaftspolizisten vor dem Tunneleingang postiert. Frankreich und Großbritannien haben die Flüchtlingskrise am Sonntag zu einer europäischen Priorität erklärt und angekündigt, das Drama in Calais entschlossen zu beenden. Text: AZ/Dpa