Hans-Werner Sinn war bis 2016 Präsident des Münchner Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Der breiten Öffentlichkeit wurde der 70-Jährige durch seine Talkshow-Auftritte und Bücher wie „Ist Deutschland noch zu retten?“ bekannt. Die Meinung des streitbaren Professors ist noch immer gefragt.
Hans-Werner Sinn: Ich bin Volkswirt. Ein Volkswirt ist für das Volk da. Er soll das Volk beraten.
Sinn: Der Begriff „rückwärtsgewandte Wirtschaftspolitik“ geht auf den Titel eines Gutachtens des Sachverständigenrates zurück. Damit ist gemeint, dass die SPD unter dem früheren Kanzler Gerhard Schröder den Arbeitsmarkt durch die Hartz-Reformen mobilisiert hat. Doch diese Reformen wurden von der Kanzlerin, wenn auch nun wieder unter dem Druck der SPD, teilweise rückabgewickelt, indem sie den Mindestlohn einführte und energiepolitisch eigenartige Wege geht.
Sinn: Ein schwerer Fehler war, dass sie Deutschland mit der Atomkraft seiner billigsten Energiequelle beraubt hat, noch dazu einer, die keine Klimaschäden hervorruft. Wenn wir nun aus der Kohle und der Kernenergie zugleich aussteigen, stehen wir vor dem Nichts. Man kann die Räder der Industriegesellschaft nicht allein mit Wind- und Sonnenkraft drehen. Das ist viel zu zappelig, als dass man damit viel anstellen könnte.
Sinn: In ihrer Anfangsphase hat Merkel meinen Rat gesucht. Heute tut sie das nicht mehr. Auch die Art, wie sie auf die Gutachten des Sachverständigenrates reagiert, zeigt, dass sie sich nicht von ökonomischen Argumenten beeindrucken lässt. Das ist nicht ihre Welt.
Sinn (lacht): Das sind drastische Vergleiche. Fest steht, dass die südeuropäischen Länder und noch andere ihre fehlende Wettbewerbsfähigkeit durch riesige Überziehungskredite bei der Bundesbank – also durch die sogenannten Targetkredite – ausgeglichen haben. Das sind mittlerweile 914 Milliarden Euro. Wir Deutschen sollten nicht glauben, dass das Geld zurückkommt. Auch die fiskalischen Rettungsschirme sind benutzt worden, um öffentliche Kredite in Länder zu geben, die keine Privatkredite mehr bekamen. Auf diese Weise bereitet man den Weg in die Transferunion vor.
Sinn: Sie kommt dann zurück, wenn der deutsche Staat nicht mehr bereit ist, neue Bürgschaften, Kredite und Geschenke zu gewähren.
Sinn: Der Euro bleibt, solange Deutschland weiter bereit ist, Zahlungen zu leisten und Bürgschaften zu übernehmen. Deutschland sollte dem Euro nicht den Rücken kehren, aber nicht auf die Umverteilungswünsche eingehen. Dann muss man sehen, was passiert. Für diesen Fall erwarte ich, dass einzelne Länder aus dem Euro austreten. Dadurch würde die Euro-Gemeinschaft kleiner. Wir sollten kein Land durch Geldleistungen vom Austritt abzuhalten versuchen, denn es ist für alle Beteiligten besser, wenn es sein Geld nach einer Abwertung wieder selbst verdienen kann.
Sinn: Ich bin sehr besorgt. In die jetzige Lage sind wir durch eine naive Politik geraten. Die größte Naivität zeigte sich darin, dass wir den Euro eingeführt haben. Das brachte ganz Südeuropa in eine unhaltbare Situation. Dadurch entstanden sehr viele Animositäten gegenüber Deutschland. Als der Maastricht-Vertrag gemacht wurde, standen südeuropäische Länder am Rande des Konkurses. Der Euro schien für sie die Rettung zu sein. In Wahrheit sind sie durch die billigen Kredite, die ihnen der Euro ermöglichte, noch tiefer in die Krise gerutscht und haben sich noch mehr verschuldet.
Sinn: Sehr. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass wir Europäer bislang noch die größeren Protektionisten sind. So schützen wir von jeher – vor allem auf Druck der französischen Bauern – unsere Landwirtschaft mit hohen Preisen. Und wir verlangen für amerikanische Autos, die nach Europa exportiert werden, einen Zoll von zehn Prozent. Die Amerikaner verlangen aber nur 2,5 Prozent. Das Hauptproblem liegt im Agrarsektor.
Sinn: Ich halte ihn für sinnvoll. Es ist besser, Hilfsbedürftige für das Mitmachen als das Wegbleiben zu bezahlen. Darauf hat das Ifo-Institut unter meiner Regie schon 2002 hingewiesen, noch ehe die Hartz-Reformen Schröders Wirklichkeit wurden. Für mehr Geld – also 300 bis 400 mehr als Hartz IV – könnte der Staat Leistungen einkaufen, die er sich sonst nicht leisten kann, weil sie von Privatfirmen viel teurer angeboten werden.