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„In die jetzige Lage sind wir durch eine naive Politik geraten“
Das Gespräch führte Stefan Stahl
 |  aktualisiert: 18.04.2018 02:36 Uhr

Hans-Werner Sinn war bis 2016 Präsident des Münchner Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Der breiten Öffentlichkeit wurde der 70-Jährige durch seine Talkshow-Auftritte und Bücher wie „Ist Deutschland noch zu retten?“ bekannt. Die Meinung des streitbaren Professors ist noch immer gefragt.

Frage: Sie gehen auch mit 70 keiner Kontroverse aus dem Weg. Was motiviert Sie?

Hans-Werner Sinn: Ich bin Volkswirt. Ein Volkswirt ist für das Volk da. Er soll das Volk beraten.

Sie attestieren Kanzlerin Angela Merkel eine „rückwärtsgewandte Wirtschaftspolitik“.

Sinn: Der Begriff „rückwärtsgewandte Wirtschaftspolitik“ geht auf den Titel eines Gutachtens des Sachverständigenrates zurück. Damit ist gemeint, dass die SPD unter dem früheren Kanzler Gerhard Schröder den Arbeitsmarkt durch die Hartz-Reformen mobilisiert hat. Doch diese Reformen wurden von der Kanzlerin, wenn auch nun wieder unter dem Druck der SPD, teilweise rückabgewickelt, indem sie den Mindestlohn einführte und energiepolitisch eigenartige Wege geht.

Merkel kommt bei Ihnen nicht gut weg.

Sinn: Ein schwerer Fehler war, dass sie Deutschland mit der Atomkraft seiner billigsten Energiequelle beraubt hat, noch dazu einer, die keine Klimaschäden hervorruft. Wenn wir nun aus der Kohle und der Kernenergie zugleich aussteigen, stehen wir vor dem Nichts. Man kann die Räder der Industriegesellschaft nicht allein mit Wind- und Sonnenkraft drehen. Das ist viel zu zappelig, als dass man damit viel anstellen könnte.

Sie haben Angela Merkel früher beraten. Ist die Kanzlerin ein Beispiel für den Typus des beratungsresistenten Politikers?

Sinn: In ihrer Anfangsphase hat Merkel meinen Rat gesucht. Heute tut sie das nicht mehr. Auch die Art, wie sie auf die Gutachten des Sachverständigenrates reagiert, zeigt, dass sie sich nicht von ökonomischen Argumenten beeindrucken lässt. Das ist nicht ihre Welt.

Sie vergleichen die Eurozone mit einer Wohngemeinschaft. In einer WG gibt es zwei elementare Fragen: Wer hat die Milch geklaut, und wer hat das Bad nicht geputzt? Wer hat im Euroland die Milch geklaut und wer hat das Bad nicht geputzt?

Sinn (lacht): Das sind drastische Vergleiche. Fest steht, dass die südeuropäischen Länder und noch andere ihre fehlende Wettbewerbsfähigkeit durch riesige Überziehungskredite bei der Bundesbank – also durch die sogenannten Targetkredite – ausgeglichen haben. Das sind mittlerweile 914 Milliarden Euro. Wir Deutschen sollten nicht glauben, dass das Geld zurückkommt. Auch die fiskalischen Rettungsschirme sind benutzt worden, um öffentliche Kredite in Länder zu geben, die keine Privatkredite mehr bekamen. Auf diese Weise bereitet man den Weg in die Transferunion vor.

Kommt die Euro-Krise zurück?

Sinn: Sie kommt dann zurück, wenn der deutsche Staat nicht mehr bereit ist, neue Bürgschaften, Kredite und Geschenke zu gewähren.

Die Gretchenfrage: Bleibt der Euro?

Sinn: Der Euro bleibt, solange Deutschland weiter bereit ist, Zahlungen zu leisten und Bürgschaften zu übernehmen. Deutschland sollte dem Euro nicht den Rücken kehren, aber nicht auf die Umverteilungswünsche eingehen. Dann muss man sehen, was passiert. Für diesen Fall erwarte ich, dass einzelne Länder aus dem Euro austreten. Dadurch würde die Euro-Gemeinschaft kleiner. Wir sollten kein Land durch Geldleistungen vom Austritt abzuhalten versuchen, denn es ist für alle Beteiligten besser, wenn es sein Geld nach einer Abwertung wieder selbst verdienen kann.

Europa sieht sich derzeit mit einer machtvollen Rückkehr des Protektionismus und Nationalismus konfrontiert. Wie besorgt sind Sie?

Sinn: Ich bin sehr besorgt. In die jetzige Lage sind wir durch eine naive Politik geraten. Die größte Naivität zeigte sich darin, dass wir den Euro eingeführt haben. Das brachte ganz Südeuropa in eine unhaltbare Situation. Dadurch entstanden sehr viele Animositäten gegenüber Deutschland. Als der Maastricht-Vertrag gemacht wurde, standen südeuropäische Länder am Rande des Konkurses. Der Euro schien für sie die Rettung zu sein. In Wahrheit sind sie durch die billigen Kredite, die ihnen der Euro ermöglichte, noch tiefer in die Krise gerutscht und haben sich noch mehr verschuldet.

Wie stark beunruhigt Sie die protektionistische Politik Trumps?

Sinn: Sehr. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass wir Europäer bislang noch die größeren Protektionisten sind. So schützen wir von jeher – vor allem auf Druck der französischen Bauern – unsere Landwirtschaft mit hohen Preisen. Und wir verlangen für amerikanische Autos, die nach Europa exportiert werden, einen Zoll von zehn Prozent. Die Amerikaner verlangen aber nur 2,5 Prozent. Das Hauptproblem liegt im Agrarsektor.

In Deutschland gibt es wieder eine Hartz-IV-Debatte. SPD-Politiker fordern ein solidarisches Grundeinkommen, das höher liegt als der Hartz-IV-Regelsatz für Alleinstehende von 416 Euro. Dafür müssten Langzeitarbeitslose kommunale Arbeitsaufgaben übernehmen. Wie beurteilen Sie den Vorstoß der SPD?

Sinn: Ich halte ihn für sinnvoll. Es ist besser, Hilfsbedürftige für das Mitmachen als das Wegbleiben zu bezahlen. Darauf hat das Ifo-Institut unter meiner Regie schon 2002 hingewiesen, noch ehe die Hartz-Reformen Schröders Wirklichkeit wurden. Für mehr Geld – also 300 bis 400 mehr als Hartz IV – könnte der Staat Leistungen einkaufen, die er sich sonst nicht leisten kann, weil sie von Privatfirmen viel teurer angeboten werden.

 
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