Die Schweiz ist uns so nah und doch so fern. Oder so anders. Ein Gespräch mit Peter Rasonyi (Jahrgang 1966), studierter Volkswirt und Leiter der Auslandsredaktion der „Neuen Zürcher Zeitung“, über deutsche Eigenarten, deutsche Befindlichkeiten und deutsch-deutsche Unterschiede.
Frage: Herr Rasonyi, die „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ) gehört zu den größten Kritikern der deutschen Politik. Was haben Sie denn gegen Deutschland?
Peter Rasonyi: Ich habe nichts gegen Deutschland. Ich selbst habe viel Zeit in Deutschland verbracht, die Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland sind ohnehin sehr eng. Aber wir sind eine liberale Tageszeitung und blicken mit diesem Fokus auf jedes Land. In Deutschland entdecken wir viele Themen, die wir nüchtern und sachlich analysieren. Dabei kommen wir zu Schlüssen, die vielleicht als kritisch wahrgenommen werden. Aber wir gehen mit der schweizerischen Politik genauso kritisch um.
Die Schweiz steht ja quasi bequem an der Seitenlinie. Darf man da anderen gute Ratschläge geben?
Rasonyi: Die NZZ blickt auf die ganze Welt. Dabei kommen wir zu Schlussfolgerungen, die für Deutschland andere sind als für die Schweiz, die international ein Leichtgewicht ist und keine tragende Rolle hat. Weder in Europa noch weltweit. Das ist bei Deutschland anders. Es spielt eine größere Rolle und muss mit dieser Rolle auch anders umgehen als etwa die Schweiz.
Nämlich wie?
Rasonyi: 2015 war im Nachhinein gesehen eine riesige Herausforderung für ganz Europa. Da fehlte es klar an einer europäischen Führungsrolle und einer einheitlichen Stimme, wie man damit umgehen muss. Als in Deutschland Mitte 2015 einfach entschieden wurde, die Grenzen komplett zu öffnen, war das innenpolitisch ein sehr schwieriges Signal. Man spürt die Nachwehen noch immer.
War 2015 für Deutschland also ein Schicksalsjahr?
Rasonyi: Sachlich gesehen nicht. Ich glaube, die Integration dieser großen Zahl von Flüchtlingen ist zu bewältigen. Ich finde es sehr eindrücklich und bewundernswert, wie Deutschland das schafft. Man schafft nicht alles, aber man schafft sehr vieles. Die Bereitschaft der Bevölkerung ist wirklich großartig. Aber gefühlt war 2015 vielleicht doch ein Schicksalsjahr, weil es zu großer Verunsicherung geführt hat. Wichtige Grundsätze der Politik wurden nicht mehr eingehalten. Der politische Diskurs ist bis heute durch die Flüchtlingskrise geprägt.
Dieser Diskurs wurde sehr stark moralisch aufgeladen. Ist das etwas typisch Deutsches?
Rasonyi: Ich habe tatsächlich den Eindruck, dass in Deutschland viele Probleme auf der moralischen anstatt auf der sachlichen Ebene abgehandelt werden. Und das ist nicht immer hilfreich. In der Flüchtlingskrise war dies sehr ausgeprägt. Konstruktive Kritik wurde primär moralisch abgehandelt und damit eigentlich verunmöglicht. Das rächt sich nun. Daraus erwuchsen Vorwürfe wie die Meinungsfreiheit sei nicht mehr gegeben oder die Medien würden ihre Rolle nicht mehr richtig ausüben. Beiträge zur Debatte wurden tabuisiert durch diese sehr starke moralische Ausrichtung.
Warum ist das typisch deutsch?
Rasonyi: In der Schweiz laufen solche Diskurse anders, sehr viel stärker sachorientiert, weil die Menschen durch die direkte Demokratie am Ende ja auch über Sachfragen abstimmen müssen. In Deutschland scheint es mir doch sehr ausgeprägt, dass man stark auf der moralischen Ebene über Probleme spricht.
Eine Journalistin hat kürzlich geschrieben: In der Schweiz sind Wutreden ein Ventil, in Deutschland sind sie ein Brandbeschleuniger.
Rasonyi: Das kann man so sehen. Der politische Diskurs in Deutschland ist stärker abgekoppelt von der Realität der meisten Bürger. Wenn man nur alle vier Jahre wählen kann, wird man dazwischen auch nicht mehr direkt angesprochen. Dadurch können sich Machtkämpfe viel stärker beschleunigen. Hier in der Schweiz ist die Politik zwangsläufig viel näher am Alltagsleben. Weil es ja letztlich um Alltagsprobleme geht und die Bevölkerung eingreifen kann.
Nun war es den meisten Deutschen ganz recht, wenn sie nur alle vier Jahre mit Politik „belästigt“ wurden. Selbst Wahlkämpfe galten als langweilig. Und plötzlich ist die Stimmung politisch aufgeheizt.
Rasonyi: Das muss ja keine schlechte Entwicklung sein. Dieses Delegieren der Politik weit weg nach Berlin hat ja auch eine problematische Seite. Zwar führt es gefühlt zu Stabilität und Geborgenheit. Aber letztendlich besteht Politik aus einem Wettbewerb der Ideen. Und ein Wettbewerb darf durchaus intensiv geführt werden. Er soll zu einer Selektion der besten Ideen führen. Ich denke daher, dass es eine positive Entwicklung ist, dass in Deutschland der politische Wettbewerb wieder intensiver ausgefochten wird.
Ist Bundeskanzlerin Angela Merkel denn zu schwach, um Deutschland durch die Zeit der Umbrüche zu führen?
Rasonyi: Ich denke, die ganze Große Koalition ist eine Notlösung und damit ein schwaches Produkt. Nicht nur, weil man keine Ideen hätte, sondern weil man gar kein gemeinsames Projekt möchte.
Ist für Sie noch eine Unterscheidung zwischen Ost- und Westdeutschland feststellbar?
Rasonyi: Ja, die gibt es. Die Integration von beiden Teilen zu einem gesamten ist noch nicht abgeschlossen, das ist eine Frage von Generationen. Die Integration hat vor allem zu Beginn darunter gelitten, dass man die Unterschiede zwischen Ost und West nicht wahrhaben wollte und dachte, alle sind gleich. Man war zu wenig bereit, sich mit Unterschieden auseinanderzusetzen und diese auch zu akzeptieren.