Die Distanz zwischen der Kanzlerin und ihrer eigenen Fraktion war nicht zu übersehen. Als Angela Merkel nach den Anschlägen von Paris vor dem Bundestag eine Regierungserklärung abgab und dabei den früheren Bundespräsidenten Christian Wulff zitierte, wonach auch der Islam „inzwischen auch zu Deutschland“ gehöre, applaudierten nicht nur die Abgeordneten des Koalitionspartners SPD, sondern auch die Vertreter der Grünen und der Linken. Dagegen rührte sich in den Reihen der Union kaum eine Hand. Vor allem die Spitzen der Fraktion, die sonst keine Gelegenheit auslassen, der eigenen Kanzlerin Beifall zu spenden, blickten schweigend und stumm ins Leere.
Fraktionschef Volker Kauder und sein Geschäftsführer Michael Grosse-Brömer, CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt und ihr Geschäftsführer Max Straubinger sowie die zahlreichen stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden verweigerten ihr demonstrativ die Gefolgschaft. Ein einmaliger, noch nie da gewesener Vorgang in der bald zehnjährigen Amtszeit Merkels. Seitdem rumort es in der Union. In der Fraktion wird offen Kritik an der Kanzlerin geübt, in den Orts- und Kreisverbänden regt sich massiver Widerstand.
Das Gefährliche für Merkel: Es sind dieses Mal nicht nur die Konservativen in der Partei, sondern ihre treuesten Gefolgsleute, die sich distanzieren. Angefangen von Fraktionschef Volker Kauder („Die Muslime in Deutschland gehören zum Land, der Islam aber nicht“) über den sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich („Der Islam gehört nicht zu Sachsen“) bis zur stellvertretenden Parteichefin Julia Klöckner („Es gibt Ausprägungen im Islam, die erhebliche Probleme mit der Gleichberechtigung von Mann und Frau haben und die die Scharia als mindestens gleichwertiges Rechtssystem zu unserer Rechtsordnung ansehen. Ein solcher Islam ist nicht automatisch ein gewollter Teil Deutschlands.“). Sie alle galten bislang als loyale Merkel-Anhänger, die die Kanzlerin und Parteichefin gegen alle Kritiker verteidigten.
Welch gereiztes Klima in der Unionsfraktion herrscht, wurde in der letzten Sitzung deutlich, als sich CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach CDU-Generalsekretär Peter Tauber vorknöpfte und dessen Forderung nach einem Einwanderungsgesetz kategorisch zurückwies.
Schwindet Merkels Macht in den eigenen Reihen? So weit wollen führende Christdemokraten nicht gehen, gleichwohl mehren sich die Indizien, dass sich die Partei von ihrer Vorsitzenden zu emanzipieren beginnt. Auf dem Kölner Parteitag im Dezember setzten sich Wirtschaftsflügel, Sozialausschüsse und Junge Union mit ihrer Forderung nach einer Abschaffung der kalten Progression durch, was Angela Merkel, Volker Kauder und Wolfgang Schäuble bis zuletzt zu verhindern versuchten, vergebens.
Aufmerksam registrieren Beobachter, dass Merkels „Boygroup“, die sie einst bedingungslos unterstützte, zerfallen ist. Ex-Generalsekretär und Ex-Kanzleramtschef Ronald Pofalla wechselte zu Jahresbeginn zur Deutschen Bahn, der frühere CDU-Schatzmeister und Staatsminister im Kanzleramt, Eckart von Klaeden, verdient bei Daimler sein Geld, Norbert Röttgen musste sich nach seiner Entlassung als Umweltminister wieder hinten anstellen und ist nun Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, Hermann Gröhe scheiterte bei den Präsidiumswahlen im Dezember. Als Einziger steht nur noch Peter Altmaier als Chef des Kanzleramtes treu an der Seite seiner Chefin. „Es wird“, raunt ein führender Christdemokrat, „einsamer um die Kanzlerin“.