Wieder gibt es einen EU-Gipfel (in Salzburg), und wieder wird dort das Problem der Einstimmigkeit virulent sein. Der frühere österreichische EU-Kommissar Franz Fischler erklärt, warum die Europäische Union dieses Dogma überwinden muss. Fischler, Jahrgang 1946, war von 1989 bis 1994 österreichischer Landwirtschaftsminister. Als EU-Agrarkommissar half er, die größte Agrarreform in der Geschichte der EU durchzusetzen.
Frage: Herr Fischler, wie beurteilen Sie den aktuellen Zustand der EU?
Franz Fischler: Wirtschaftlich ist sie in einem sehr guten Zustand. Doch außerhalb der Wirtschaft wird der Mangel an Willen immer spürbarer, gemeinsame Projekte voranzutreiben. Für die Zukunft Europas wäre es an der Zeit, sich nicht nur um die Migrationsfrage, sondern um die entscheidenden Zukunftsfragen zu kümmern. Darum, wie wir den Klimawandel bewältigen und den Anschluss an die Spitzengruppe der Digitalisierung erreichen wollen. Außenpolitisch müsste Europa jetzt seine Souveränität zeigen. Die Welt erwartet Initiativen. Diese bleiben mangels Einigkeit aus.
Was sind die Ursachen?
Fischler: Nationalismen verschiedenster Art stehen im Vordergrund. Eine wachsende Gruppe von Politikern lotet nicht aus, was an Gemeinschaft möglich ist, sondern lotet aus, wie weit sie gehen kann, ohne den Vorwurf zu bekommen, eine rote Linie zu überschreiten. Es rächt sich, dass man nicht den Mut hat, für bestimmte außen- und sicherheitspolitische Entscheidungen das Einstimmigkeitsprinzip zu verlassen, wie die Kommission seit langem vorschlägt. Angesichts dessen, was sich in Amerika und anderen Teilen der Welt abspielt, müsste die EU Weltpolitikfähigkeit beweisen. Die Frage der Einstimmigkeit muss in den nächsten Wochen einen prominenteren Platz in der öffentlichen Debatte bekommen.
Wie könnte man die Einstimmigkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik aufheben?
Fischler: Man könnte damit bei Fragen beginnen, die nur ein oder zwei Staaten blockieren. Man müsste dann nicht unbedingt die übliche qualifizierte Mehrheit verlangen. Es könnten auch größere Mehrheiten sein. Aber man muss einen Mechanismus finden, der verhindert, dass ein oder zwei Mitgliedstaaten Entscheidungen blockieren.
Könnte man so die Visegrad-Staaten (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) zähmen?
Fischler: Bei einer ganzen Gruppe wird das schwierig. Dann überfordert man die EU. Aber wenn man einmal den Anfang macht, wird das Dogma der Einstimmigkeit etwas entkrampft.
Trauen Sie Angela Merkel noch zu, eine solche Initiative durchzusetzen?
Fischler: Ja. Wer schwach dasteht, sind Seehofer und seine CSU. Frau Merkel findet ausreichend Anerkennung.
Wie realistisch ist der Anspruch von Sebastian Kurz, Brückenbauer zu sein?
Fischler: In einem halben Jahr kann man keine große Brücke bauen. Die Voraussetzung dafür, eine Brücke zu bauen, ist, dass man in den verschiedenen Camps Vertrauen bildet. Das gelingt Sebastian Kurz immer besser.
Man hatte den Eindruck, er stehe aufseiten der Visegrad-Staaten.
Fischler: Wenn seine Absicht darin besteht, mit den Ländern in Kontakt zu treten, um sie wieder an Bord zu bringen, ist das vertretbar. Wenn es darum geht, dass Österreich immer stärker mit den politischen Inhalten der Visegrad-Staaten sympathisiert und sich in diesem Camp aufgehoben fühlt, wäre das falsch.
Wird Kurz das Migrationsthema weiter in den Mittelpunkt stellen?
Fischler: Ich habe das Gefühl, dass er eingesehen hat, dass man allein mit dem Migrationsthema nicht weiterkommt. Nicht nur, weil man in der Migrationsfrage politisch blockiert ist. Er weiß, dass auch andere Fragen drängen: die Brexit-Verhandlungen und das Verhältnis Europas zu Afrika und die Notwendigkeit klarer finanzieller Rahmenbedingungen dafür.
Welche Möglichkeiten sehen Sie, um Einnahmeverluste durch den Brexit zu kompensieren?
Fischler: Das ist aus meiner Sicht nur möglich, indem man die Beiträge erhöht oder beim Agrar- und Regionalfonds Kürzungen vornimmt. Beides zusammen ist das Wahrscheinlichste.
Kann die Landwirtschaft das verkraften?
Fischler: Ein Teil der Kosten wäre dann verkraftbar, wenn gleichzeitig eine Reform der Agrarförderung durchgeführt würde. Man könnte Kosten sparen, indem man das System der Flächenprämien degressiv gestaltet. Großbetriebe sollten nicht dieselbe Flächenprämie bekommen wie Kleinbetriebe. Es ist niemandem zu erklären, dass unter dem Titel einer Sozialmaßnahme einzelne Farmen Millionen pro Jahr kassieren.
Wie sollte die künftige Afrika-Politik der EU aussehen?
Fischler: Die europäische Wirtschaft muss massiv einbezogen werden. Europa muss in Bildung, Ausbildung und Wissenschaft investieren. Das sind Schlüsselbereiche. Natürlich braucht man für die nordafrikanischen Länder eine andere Politik als für Länder südlich der Sahara.
Halten Sie Anlandezentren in Afrika für möglich?
Fischler: Grundsätzlich ist die Idee nicht falsch, vor Ort zu checken, für wen eine Einreise in die EU überhaupt möglich wäre. Aber man muss verhindern, dass aus solchen Zentren nach wenigen Jahren Flüchtlingslager werden, wie es sie in Jordanien oder im Libanon gibt.