Die Verhandlungen um den Brexit sind zu einem quälenden Marathon geworden. Nun verbreitete ausgerechnet EU-Unterhändler Michel Barnier erstmals so etwas wie Optimismus. Bis zum Sondergipfel in der nächsten Woche sei ein Austrittsabkommen „in Reichweite“. Doch von einem Durchbruch kann vorerst keine Rede sein.
Günther Oettinger ist für seine ungewöhnlichen politischen Analysen bekannt. Der deutsche EU-Haushaltskommissar griff denn auch in dieser Woche in Brüssel zu einem ungewöhnlichen Appell in Sachen Brexit. „Mehr Rückgrat“ empfahl er der britischen Premierministerin Theresa May. Nachdem sie den Parteitag ihrer Tories überlebt habe, ohne gestürzt worden zu sein, solle sie „das Momentum“ nutzen. Der Aufruf wäre gar nicht notwendig gewesen. Denn tatsächlich bewegt sich etwas in den seit Monaten festgefahrenen Brexit-Verhandlungen.
80 bis 85 Prozent des Austrittsabkommens seien ausgehandelt, erklärte EU-Chefunterhändler Michel Barnier. Ein positives Signal beim Sondertreffen der EU-Staats- und Regierungschefs mit May Mitte kommender Woche sei durchaus denkbar. „Es gibt keine Einigung, aber wir verhandeln ernsthaft“, ließ ein hochrangiger EU-Diplomat durchblicken, der an den Gesprächen mit den Briten beteiligt ist. Darauf deuten auch andere Signale hin: Ende vergangener Woche weilte Irlands Premierminister Leo Varadkar in Brüssel.
Mehrere Knackpunkte
Am Dienstag war Arlene Foster gekommen, die Chefin der nordirischen DUP, auf deren Stimmen Premierministerin May im Parlament angewiesen ist. Von einer „neuen Dynamik“ ist plötzlich die Rede. Vermutlich auch deshalb stoppte die EU-Kommission Mitte dieser Woche die Veröffentlichung eines Berichts über die möglichen katastrophalen Folgen eines Brexits ohne Deal mit London. Man wollte die behutsamen Schritte nicht durch neue Drohungen belasten.
Dabei gibt es noch mehrere Knackpunkte, für die Kompromisse zumindest schwierig scheinen. Größtes Problem ist weiter die Frage, wie die Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und der nordirischen Provinz Nordirland gestaltet werden soll. Denn „hart“ darf die Trennung nicht sein, um das Karfreitagsabkommen zwischen den beiden Regionen nicht zu gefährden. Es sichert den Frieden, der nach jahrzehntelangem Bürgerkrieg erreicht wurde.
Die EU denkt nun daran, Nordirland in einer Zollunion mit der Union zu lassen. Dort würden die Binnenmarktregeln weiter gelten. Das erfordert allerdings Waren- und Zollkontrollen zwischen der Provinz und dem übrigen Königreich, die man – so eine neue Idee – online per Internet vorab absolvieren könnte, so dass faktisch keine Grenze nötig wäre. Genau das geschieht bereits beim Handel mit Schlachtvieh.
Neuer Anlauf der Unterhändler
Doch DUP-Chefin Foster wies diesen Vorstoß in Brüssel strikt zurück. Neuer Anlauf der EU-Unterhändler: Dann könne Großbritannien auch vollständig in der Zollunion bleiben, bis man ein Freihandelsabkommen nach dem Modell Kanada abgeschlossen habe. Das lehnte wiederum der britische Brexit-Minister Dominic Raab ab. Es würde verhindern, wovon die Brexit-Befürworter träumen: viele attraktive Freihandelsbeziehungen der Insel mit der übrigen Welt.
Eine überraschende Lösung deutet sich dagegen bei der Frage an, ob der Europäische Gerichtshof auch künftig für beide Partner zuständig ist. London lehnt dies strikt ab. Die EU bastelt gerade mit der Schweiz an einer Lösung für die gleiche Frage. Da ist ein Schiedsgericht im Gespräch, das aus je einem EU- und einem eidgenössischen Juristen besteht, die beide zusammen noch einen unabhängigen dritten Richter berufen. So etwas könne, heißt es in Brüssel, auch eine Variante sein, auf die sich die Briten einlassen würden.
Sollte der EU-Sondergipfel in der nächsten Woche keinen Durchbruch bringen, so erhofft man sich doch wenigstens ein positives Signal. Die EU scheint bereit, dann ein weiteres Spitzentreffen im November einzuberufen, auf dem dann der Brexit-Vertrag unterschrieben werden könnte. Kommen Briten und Europäer bis dahin zusammen?