Seit die ägyptische Armee Präsident Mohammed Mursi abgesetzt hat, flutet eine Woge nationalistischer Massenhysterie, bösartiger Verhetzung und taumeliger Militärbegeisterung durch das Land, die nahezu alle mitreißt. Selbst Blogger und Intellektuelle, Liberale und Mitglieder der Demokratiebewegung übertrumpfen sich dieser Tage mit aufgepeitschten Reden.
„Volk und Armee kämpfen gegen eine Terrorgruppe, die versucht, die Welt davon zu überzeugen, dass in Ägypten ein Militärputsch stattgefunden hat“, trompetete der Sprecher der Rebellengruppe „Tamarod“, Mahmoud Badr. Ein Talkshow-Moderator diffamierte die Muslimbrüder als „sadistische und extrem gewalttätige Kreaturen“. Der liberale Kolumnist Khaled Montaser nannte sie „schlimmer als Kriminelle und Psychopaten“. Sie verstünden nicht die Bedeutung von Heimatland, nur die Bedeutung von Kalifat.
In das gleiche Horn stieß die einstige Mitbegründerin der Demokratiebewegung „6. April“, Esraa Abdel Fattah, die 2011 sogar für den Friedensnobelpreis im Gespräch war. Die Muslimbruderschaft sei eine vom Ausland unterstützte Terrorgruppe. „Wenn Terrorismus in Ägyptens versucht, Wurzeln zu schlagen, und ausländische Einmischung sich in unseren internen Angelegenheiten festsetzen will, dann ist für das große ägyptische Volk der Tag gekommen, seine Streitkräfte gegen diese ausländische Gefahr zu unterstützen“, schrieb sie in einer Zeitungskolumne.
Mit ähnlicher Verbohrtheit und endloser Gegenrede wird der semantische Streit ausgetragen, ob das Eingreifen der Armee ein Staatsstreich war oder eine Zweite Revolution des Volkes. Parallel zur Lautstärke der Debatte schwollen dann auch die Zahlen der Anti-Mursi-Demonstranten, die angeblich am 30. Juni auf den Straßen Ägyptens gewesen sein sollen. Inzwischen sind bei allen Anti-Mursi-Kommentatoren 33 Millionen Demonstranten herrschende Weisheit – auch wenn nach seriösen Schätzungen maximal 400 000 auf den Tahrir-Platz passen und zwei Millionen im ganzen Land auf den Beinen waren.
Kein Wunder, dass in diesem aufgepeitschten Klima besonnene Stimmen nahezu verstummt sind. „Nach dem bärtigen Chauvinismus von rechts bewegen wir uns nun zu einem glatt rasierten Chauvinismus von rechts“, zitiert die „New York Times“ die Politologin Rabab el-Mahdi von der Amerikanischen Universität Kairo, die zu den Mitorganisatoren des Aufstands gegen Hosni Mubarak gehörte. Amr Hamzawy, ehemaliger Wissenschaftler an der FU Berlin und Abgeordneter im aufgelösten ägyptischen Parlament, war der Erste aus dem liberalen Lager, der die Schließung islamistischer Fernsehkanäle, die Verhaftungswelle gegen die Muslimbrüder sowie den Arrest von Mohammed Mursi öffentlich kritisierte. In einer Kolumne für die Zeitung „Al Watan“ ging er mit der „Rhetorik von Häme und Hass, von Vergeltung und Rache gegen die Muslimbrüder“ hart ins Gericht. Den Jubel über das Militär geißelte er als „Faschismus unter dem falschen Deckmantel von Demokratie und Liberalismus“, seine Mit-Intellektuellen, die jetzt zu allem schwiegen, nannte er „Vögel der Dunkelheit“.
Auch Hossam Bahgat, Gründer von Ägyptens Initiative für Personenrechte, zeichnet ein düsteres Bild. Das Ziel der liberalen Kräfte – eine zivile Demokratie, die alle einschließt – erscheine heute weiter entfernt als vor dem Sturz Mubaraks im Februar 2011, schrieb er. Stattdessen fühlten sich die alten Seilschaften und Eliten wieder ermutigt, auf die volle Rückkehr des Mubarak-Systems zu pochen. „Es gibt mächtige und finanziell gut ausgestattete Akteure, die Ägypten nun zurückdrängen wollen in das Jahr 2010.“