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MÜNCHEN
Im Weltpuzzle fehlt ein Teil
Sicherheitskonferenz: München erlebt eine entfesselte Kanzlerin, vor allem aber die Abwesenheit der Ordnungsmacht USA. Der Notstand, den Trump daheim auszurufen versucht, herrscht im Rest der Welt schon.
Von Gregor Peter Schmitz
 |  aktualisiert: 02.04.2019 14:50 Uhr

Und dann springen sie auf. Es geht links in den Reihen los, von hinten, wo die weniger Wichtigen sitzen, dann schwappt die Welle mittig rüber, bahnt sich den Weg durch die Reihen, als wolle sie Kraft aufbauen, bevor sie sich an der Bühne bricht. Es klatscht durch alle Reihen, viele stehen jetzt, in diesem Saal voller Präsidenten und Premiers, voller Konzernbosse, Denker und Vordenker, voll mit jenen, die sonst kaum noch aus dem Sitz kommen vor Alter oder Bedeutung. Sogar die, die sich am liebsten selber auf die Schulter klopfen, klatschen nun, und sie beklatschen eine Frau im pinkfarbenen Blazer vorne auf der Bühne: Angela Merkel.

Die guckt sich das an, mit jenem sanften Lächeln, das immer zu sagen scheint, in der Uckermark, wo ich herkomme, kennt man so was aber nicht. Es ist ja nicht unhöflich darauf hinzuweisen, dass die Kanzlerin als keine allzu große Rednerin gilt. Manchmal hatte man den Eindruck, sie mache sich einen Spaß daraus, möglichst dröge zu sprechen, als sei mangelnde Eloquenz für sie quasi alternativlos. Aber das war nicht die Angela Merkel, die in den vorigen 28 Minuten dieses Samstagvormittags bei der Münchner Sicherheitskonferenz auf der Bühne stand.

Die Weltlage auseinander genommen

Jene begann mit Alexander von Humboldt, und dann nahm sie die Weltlage erst auseinander und setzte sie dann wieder zusammen, wie sie das früher wohl als Chemikerin mit Molekülen gemacht hat. Sie hat den Chinesen – dabei blickte sie in der ersten Reihe Yang Jiechi, wichtigster Außenpolitiker des Landes, direkt an – erläutert, warum Europa gar nicht daran denke, sich komplett von ihnen abhängig zu machen. Sie hat die Russen – da suchte Merkels Blick Russlands Außenminister Sergej Lawrow – klargemacht, dass es völkerrechtswidrig sei, sich eine Insel im Schwarzen Meer einzuverleiben. Sie hat aber zugleich dem ukrainischen Präsidenten zugerufen, die umstrittene Gaspipeline Nordstream 2 bedeute ja nicht den deutschen Ausverkauf an Russland.

Und dann hat diese ganz neue Angela Merkel auch noch, ohne seinen Namen in den Mund zu nehmen, Donald Trump verspottet, mit dem einfachen Satz, sie verstehe nicht recht, warum BMW – dessen größtes Werk doch in South Carolina stünde, nicht in Bayern – auf einmal eine Riesenbedrohung für die US-Wirtschaft darstelle.

Mitreißende Worte

So ist Merkel durch die Welt gepflügt und ganz am Ende sagt sie einfach, mit Blick auf das Konferenzmotto – „Wer setzt das Puzzle wieder zusammen?“ –, dass die Antwort doch ganz einfach sei: „Nur wir alle zusammen.“

Es klingt fast nach „Wir schaffen das“, bloß dass sich diesmal niemand über den Satz aufregt, ganz im Gegenteil. Merkels Worte reißen die Zuhörer im Bayerischen Hof in München von den Sitzen und hin zu den Smartphones, die im Applaus kollektiv gezückt werden. Bei Konferenzen dieser Art geht es ja nicht nur darum, dabei zu sein. Es geht auch darum, dass der Rest der Welt mitbekommt, dass man dabei ist.

Und so fliegen sie in die Welt, die Tweets, Hashtag #MSC2019#Merkel. Auch Ian Bremmer tippt, einer dieser US-Welterklärer mit eigener Beratungsfirma und Kolumne im US-Magazin Time, er haut in die Tasten: „Gäbe es heute einen Anführer der freien Welt, wäre es Merkel.“

Dann lässt er eine Leerzeile. Und fügt im Tweet hinzu: „Es gibt keinen Anführer der freien Welt.“

Autsch.

Beeindruckend und zugleich traurig

So fasst Bremmer in ein paar Zeichen zusammen, warum dieser Moment rund um Merkels Rede der wohl beeindruckendste Moment der 55. Münchner Sicherheitskonferenz ist. Und weshalb dieser Moment zugleich der wohl traurigste dieser 55. Münchner Sicherheitskonferenz ist.

Denn so stark, so gelöst Merkel in der Spätblüte ihrer Kanzlerschaft auftritt, so sehr zeigt die fast euphorische Reaktion auch: Es existiert eine Lücke in der Weltordnung, es fehlt ein Teil im Welten-Puzzle, seit Donald Trump in Washington regiert. In einer Welt der Verunsicherung gibt es eine echte Sehnsucht danach, dass Selbstverständliches wieder ausgesprochen wird – etwa dass Multilateralismus besser sei als nationale Alleingänge.

Diese Lücke ist an diesem Wochenende im Bayerischen Hof überall zu spüren, im prächtigen Tagungssaal genauso wie an der heillos überfüllten Bar. Ganz gleich, ob nun der Geheimdienstchef von Kurdistan Hof hält oder Präsidententochter Ivanka Trump in einem jener Outfits vorbei rauscht, die man vorher auf ihrem Instagram-Konto gesehen hat. Ganz egal, ob CDU-Hoffnung Jens Spahn im Gespräch so gewichtig mit dem Kopf nickt, als ließe er sich gerade den Code der US-Atombomben erläutern, ob der Präsident von Rumänien durch die Menge pflügt oder der knallharte Militär-Mann aus Ägypten.

„München“, oder „Munich“, wie Insider nur sagen, ist ja immer auch ein Welten-Seismograph, ein Gipfeltreffen, das auf Mega-Gipfelgröße angeschwollen ist, mit unzähligen „Bilaterals“, „Breakfast Meetings“ und „Fireside Chats“.

Drei Tage lang scheint es in dieser Welt der bayerischen Landeshauptstadt keinen einzigen Menschen zu geben, der nicht – würde sie oder er nachts geweckt – umgehend ein Kurzreferat zum „Vernetzten Sicherheitsbegriff“ halten könne. Nur fehlt halt dieses Jahr etwas, und das spricht ein Amerikaner aus, als er am Samstagabend durch die vielen Prachtzimmer der Münchner Residenz zum Dinner schreitet. In diesen Räumen wird auch eines Bildes gedacht, das zeigen soll, wie der Mensch die Welt beherrsche. Genau, sagt der Amerikaner da, es brauche „Leadership“. Die fehle. Genauer, es fehlen: die USA.

Man kann das sogar an Wolfgang Ischinger sehen, Chef der Sicherheitskonferenz und geübter Skifahrer, der die Konferenzmeute so vorsichtig dirigiert, als betreue er ein Lawinengebiet. Ischinger, 72 Jahre alt und lange Botschafter in Washington, wirkt immer, als trage er sogar in der Sauna Anzug. Aber als er die Konferenz am Freitag eröffnet, hat er sich einen Kapuzenpulli übergezogen, auf dem Europasterne abgebildet sind. Selbst bei dieser Konferenz, die als Transatlantikertreffen angelegt war, ist von den USA also am Anfang demonstrativ keine Rede mehr.

Und wieso auch? Fast zeitgleich mit Ischinger steht US-Präsident Trump in Washington vor Journalisten, er erklärt, weshalb es leider einen Notstand gebe an der US-Grenze, Horden von Einwanderern kämen dort an, daher müsse er am Kongress vorbei Milliarden für seine Mauer freischaufeln. Als die Journalisten ihm mit Fakten kommen wollen, schreit Trump los, das seien „Fake News“.

Aber die Suche nach dem guten Amerikaner gestaltet sich auch in München schwierig. Sicher, die US-Delegation ist groß wie nie, „First Daughter“ Ivanka ist mit ihrem Gatten angereist, der ja an einem Nahost-Friedensplan basteln soll. Auch Trump-Vize Mike Pence ist gekommen, also eigentlich alle, die im Weißen Haus nie fürchten müssen, gefeuert zu werden.

Warum Pence so verstimmt war

Vielleicht ist aber genau das das Problem. Pence etwa hält eine kurze Rede bei einem Festakt im Landtag für John McCain, den kürzlich verstorbenen Ober-Transatlantiker und Kriegshelden, der jahrelang in Gefangenschaft ausharrte, obwohl ihm als Generalssohn der Austausch angeboten worden war (wozu Trump übrigens einfiel, Helden seien für ihn Leute, die sich nicht gefangen nehmen lassen). Pence sagt, er überbringe Grüße vom 45. Präsidenten der USA, Donald Trump, einem „Champion der Freiheit“.

Die Zuhörer: schweigen.

Das verstimmt Pence offenbar, noch ehe McCains Witwe zu sprechen anfängt, rauscht er davon. Ähnlich schnell weg ist er nach seiner offiziellen Rede, allerdings hatte er ohnehin nur das vom Teleprompter abgelesen, was seinen Boss im Weißen Haus freuen dürfte, etwa dass Iran ein „mörderisches“ Regime sei.

Doch das vielleicht Traurigste an dieser Konferenz ist: Egal wie laut sie lachen über Trump, wie entsetzt sie die Münder aufreißen, einig sind sich eigentlich alle – er könnte bleiben. Die Hoffnung noch vom Vorjahr, Trump werde sich im Skandal verlieren, vom Wähler abgestraft werden, sie wirkt verflogen. Und überhaupt: Wäre ein Präsident Pence irgendwie besser? Zugleich ist keine e inige Stimme aus Europa zu vernehmen. Klar, es gibt Briten auf der Konferenz. Aber die streiten über den Brexit. Klar, es sind Franzosen anwesend. Doch sie streiten über die Gelbwesten.

Und Deutschland? So laut der Jubel über Merkels Rede ist: Horcht man sich nach dem ganzen Klatschen um, fallen auch Sätze, das sei eine Art Vermächtnisrede gewesen. Was kommt da noch Neues?

Eigentlich ist das Neue schon da. Sie sitzt bei der Merkel-Rede weit hinten im Saal, aber wenn sie durch die Tagungsräume schreitet, teilt sie die Menge fast wie die Kanzlerin: Annegret Kramp-Karrenbauer, kurz AKK. Natürlich, wenn diese am Vorabend der Konferenz bei der „Europa-Konferenz“ spricht oder bei einer Diskussionsrunde über Frauen in der Sicherheitspolitik doziert, steht eine Frage mit im Raum: Kann die das, die Frau aus dem Saarland?

Andererseits: Hat man sich das bei Merkel nicht auch gefragt? Der Ostdeutschen, die bis zur Wende von den USA nur träumen konnte?

Vielleicht muss AKK es ja gar nicht alleine stemmen. Friedrich Merz wäre so gerne als CDU-Chef gekommen, ist aber immerhin als Chef der Atlantik-Brücke dabei. Auch er spricht, bei einem Lunch, noch vor dem offiziellen Beginn.

Was Merz sich so denkt

Was Merz genau sagt, darf man nicht schreiben, weil es „off the record“ ist. Aber man darf wohl schreiben, dass der Sauerländer eine beeindruckende Gedankenreise unternimmt, vom vertrackten US-Wahlsystem über deutsche Führungsschwäche in Europa bis hin zu den Russen und Chinesen.

Danach kommt natürlich die Frage auf, ob Merz sich nicht vorstellen könne, in einer Regierung ohne Kanzlerin Angela Merkel als Minister zu dienen. Und man verrät wohl nicht zu viel, wenn man schreibt, dass er sich das durchaus vorstellen könne. Vielleicht ist da das Motto dieser Sicherheitskonferenz einfach das Motto der deutschen Außen-und Sicherheitspolitik. Zusammen geht es besser.

 
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