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Im Schulz-Rausch
Die SPD in Vilshofen: Vor ein paar Wochen war die SPD noch eine Partei ohne Hoffnung. Dann kam Martin Schulz. Der Kanzlerkandidat wird bejubelt wie ein Rockstar. Und man fragt sich: Was finden die Leute bloß an ihm?
Von unserem Mitarbeiter Michael Stifter
 |  aktualisiert: 09.03.2017 03:49 Uhr

Martin Schulz ist nicht der Typ, nach dem sich die Leute umdrehen, wenn er einen Raum betritt. Wären da nicht all die Fotografen um ihn herum, man würde kaum Notiz von ihm nehmen, als er ins Bierzelt von Vilshofen kommt.

Martin Schulz ist Durchschnitt. Der Anzug, die Brille, der Bart, die Stimme, ja sogar der Name: alles Durchschnitt. Und um diesen Mann zu feiern, steigen Jugendliche auf Biertische? Schwenken Damen mittleren Alters rote Fähnchen und johlen wie Groupies bei einem Rockkonzert?

Innerhalb von ein paar Wochen hat er aus der bemitleidenswerten SPD eine Partei gemacht, die im September die Bundestagswahl gewinnen kann. Kein Witz. Und nicht nur die politische Konkurrenz fragt sich: Was finden die Leute bloß an diesem Martin Schulz?

Ingrid und Winfried Bergmann haben eine Antwort. Sie werden beide in diesem Jahr 80 und sind „früher mal SPDler gewesen“, wie sie erzählen. Aber das ist ziemlich lange her. Beim Politischen Aschermittwoch waren sie noch nie, obwohl sie in Vilshofen wohnen. Dass sie jetzt schon morgens um 8 Uhr hier ans Donauufer gekommen sind, liegt ausschließlich am Kanzlerkandidaten. „Er spricht Themen an, die in den letzten Jahren untergegangen sind“, sagt Winfried Bergmann.

Seine Frau, die betont, ihr Großvater habe SPD-Mitbegründer August Bebel persönlich gekannt, nickt. Es sei doch ein „Ding der Unmöglichkeit, dass Leute, die 40 Jahre lang gearbeitet haben, genauso behandelt werden, wie die, denen immer alles egal war“, sagt sie. Und dann fällt zum ersten Mal an diesem Vormittag das Wort, um das sich die Welt des SPD-Erweckers dreht: „Wo bleibt denn da die Gerechtigkeit?“ Die Blasmusik setzt ein.

Am Nebentisch bestellt sich ein Mann mit grauem Rauschebart, der das Wort Frühschoppen sehr ernst zu nehmen scheint, eine weitere Halbe. Den Deutschen geht es gut. Den meisten jedenfalls. Und trotzdem hat die Mehrheit einer aktuellen Umfrage zufolge das vage Gefühl, dass es irgendwie nicht gerecht zugeht in unserem Land. Und dieses Gefühl greift Schulz auf.

Auch in Vilshofen erzählt er von seiner Familie – die Mutter Hausfrau, der Vater Polizeibeamter, er selbst lieber auf dem Bolzplatz als in der Schule. Einfache Leute eben. Das schafft Vertrautheit.

Wir leben in einer Zeit, in der kein Stein mehr auf dem anderen bleibt. Bankenkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise, Terror, Ukraine, Brexit, Trump – es steht so viel auf dem Spiel. Und die Durchschnittsmenschen fragen sich, wer da eigentlich noch über ihre Probleme redet. Wer sich eigentlich um sie, die normalen Bürger, kümmert, die brav ihre Steuern zahlen und die Familie über die Runden bringen.

Für viele heißt die Antwort Schulz. „Deutschland ist ein blühendes Land, weil wir eine hart arbeitende Bevölkerung haben, die dieses Land am Laufen hält“, sagt er und fordert mehr Respekt für die Lebensleistung dieser Menschen. Die geschundene sozialdemokratische Seele ist beseelt. Denn obwohl der 61-Jährige als begeisterter Europa-Politiker das oft alltagsferne Brüssel verkörpert, nehmen ihm seine Zuhörer ab, dass er – der Durchschnittstyp – sich wirklich für sie interessiert. Dass er sie versteht. Wer sich einmal mit ihm unterhalten hat, kann auch nachvollziehen, warum das so ist.

Schulz spricht eine klare, bildhafte Sprache, er ist einer, der Geschichten erzählen kann. Das heißt aber nicht, dass er einfach in jedes Mikrofon plappert. Wer ihn etwas fragt, muss mitunter ein bisschen auf eine Antwort warten. Dann kann man förmlich dabei zuschauen, wie sich die Sätze in seinem Kopf entwickeln. Und Schulz hat auch kein Problem damit, mal die Klappe zu halten und anderen zuzuhören. Das hilft ihm, „Fühlung aufzunehmen“, wie er selbst es nennt.

Doch die Schulz-Mania hat noch eine andere, banalere Ebene. Natürlich wäre es eine Frechheit, zu behaupten, das Beste am Kanzlerkandidaten der SPD sei, dass er nicht Sigmar Gabriel ist. Aber ein bisschen was ist trotzdem dran.

An einem Biertisch weit weg von der Bühne sitzt eine Gruppe von Studenten aus Passau. Ob sie auch für Gabriel so früh aufgestanden wären? „Eher nicht“, sagt Hanna Mandel. Sie ist 21 und will im September SPD wählen. Wahrscheinlich hätte sie das eh gemacht, aber es sei doch einfacher, wenn man vom Kandidaten „auch wirklich überzeugt“ ist. Nur, was ist denn nun so überzeugend an diesem Mann, der die Parteijugend derart euphorisiert, dass sie in Vilshofen zeitweise eine Atmosphäre wie im Fußballstadion entfacht?

Für Hanna Mandel sind es vor allem der entschlossene Kampf gegen Rechtspopulisten und sein flammendes Bekenntnis zu Europa. „In meiner Generation gibt es das negative Bild von Europa nicht – wir finden es toll, dass wir einfach über die Grenze nach Österreich spazieren können“, sagt sie.

Christian Kern kommt nicht zu Fuß, sondern mit dem Auto. Der Österreicher ist schon das, was Schulz erst werden will: Bundeskanzler. „Hier spricht die Vorband“, sagt er, als er ans Mikrofon tritt – und hat das Zelt auf seiner Seite. Als dann kurz darauf der Hauptact am Rednerpult steht, bricht für einen Moment die Sonne durch die niederbayerischen Wolken. Viele Sozialdemokraten sind da längst berauscht. Weniger vom Bier als von sich selbst.

„Deutschland ist ein blühendes Land, weil wir eine hart arbeitende Bevölkerung haben, die dieses Land am Laufen hält.“
Martin Schulz, SPD-Kanzlerkandidat

Am Studententisch hört Thomas Ittner genau zu. Der 20-Jährige darf im Herbst zum ersten Mal bei einer Bundestagswahl seine Stimme abgeben. Bislang sei er nicht auf eine Partei fixiert gewesen, sagt er.

„Jetzt ist für mich eigentlich klar, dass ich Schulz wähle. Er ist einfach ein guter Typ, ein frisches Gesicht nach all den Merkel-Jahren.“ Auf dem Tisch liegt ein Plakat. Darauf steht „Zeit für Martin“.

Schulz ist sicher, dass den meisten Deutschen die „Brutalisierung der politischen Auseinandersetzung“ Marke Trump und die Parolen von Rechtspopulisten zuwider sind. „Diejenigen, die Europas Völker wieder aufeinander hetzen wollen, dürfen unseren Kindern nicht die Zukunft stehlen“, warnt er. „Es gibt wieder Feinde der Demokratie – auch in unserem Land“, sagt Schulz und es ist klar, wen er damit meint: Die AfD bezeichnet er als „Schande für die Bundesrepublik“. Vor allem die Jüngeren im Publikum klatschen begeistert.

Der Kandidat feuert – wie es sich im Bierzelt gehört – auch ein paar Breitseiten gegen die CSU ab, die nur wenige Kilometer entfernt in Passau zurückschießt. Quasi als Paartherapeut macht er sich über die politische „Zwangsehe“ der Unionsparteien lustig und stellt seine Diagnose: „Die sind nicht mehr ganz beisammen.“

Auch für das kuriose mathematische Verständnis des CSU-Generalsekretärs, der behauptet hatte, beim Aschermittwoch seiner Partei seien „gefühlt 10 000 Leute“, hat er noch ein paar spöttische Worte übrig: „Ich habe gelesen, die gefühlte Mehrheit sitzt in Passau. Ich glaube, die tatsächliche Mehrheit sitzt hier.“ Stammtisch eben. Doch politische Wettbewerber sind für Schulz keine Feinde – nicht mal am Aschermittwoch. „Wir kämpfen mit harten Argumenten, aber nicht mit persönlichen Beleidigungen“, heißt sein Credo. Er will nicht mitmachen beim Schüren von Hass, Wut und Ängsten. Doch genau genommen spielt auch Schulz mit den so oft bemühten „Sorgen der Bürger“. Nicht mit der Angst vor Flüchtlingen, dem Islam oder dem Terror. Aber mit der Angst vor sozialem Abstieg, mit der Angst, auf der Strecke zu bleiben.

Dass er nun Teile der erfolgreichen Agenda 2010 infrage stellt und die SPD „entschrödern“ will, wie der „Spiegel“ neulich schrieb, hält der Wahlkampf-Experte Frank Stauss für ein wohlkalkuliertes Manöver. „Der Aufschrei war groß. Aber ich glaube, dass man nicht viele Leute finden wird, die es für richtig halten, dass Menschen, die ihr ganzes Leben gearbeitet haben, bei Jobverlust so schnell in Hartz IV abrutschen. Oder dass junge Leute von einem befristeten Job in den nächsten weitergereicht werden“, sagt Stauss im Gespräch mit dieser Redaktion. Dass Kritiker Schulz wegen seiner Verheißung von mehr sozialer Gerechtigkeit Populismus vorwerfen, hält der einstige Wahlkampfmanager von Gerhard Schröder für absurd: „Er kann doch nichts dafür, dass er jetzt überall schon fast mit Choralklängen und Heiligenschein angekündigt wird.“

Der Politische Aschermittwoch in Vilshofen – im größten Zelt, dass die SPD dort je hatte – ist eine Art Wiederauferstehungsparty. Unter Gabriel hatte sich die SPD schon fast aufgegeben. Alle wussten, dass der unpopuläre Noch-Parteichef keine Chance gegen Angela Merkel hat. Alle waren sicher, dass er trotzdem antritt.

Dann kam es anders. Dann kam Schulz. Er sagte, dass er Kanzler werden will. Und er meinte das ernst. Er wurde belächelt. Doch für den Politikberater Michael Spreng ist dieser Moment ein entscheidender Faktor für die unglaubliche Aufholjagd der SPD. „Ein Kandidat muss immer erst von sich selbst begeistert sein, dann seine Partei begeistern und am Ende die Wähler. Genau das gelingt Schulz gerade“, sagt Spreng. Und fügt hinzu: „Es wird aber ziemlich schwierig sein, acht Monate lang begeistert zu sein.“

Nur wie lange kann dieser Hype anhalten? Und wie lange hält der sozialdemokratische Messias selbst das durch? Bei allem Selbstbewusstsein, bei allem Machtwillen, kommt auch der Kandidat bisweilen ins Grübeln. Ja, es gibt diese Momente, in denen er selbst kaum glauben kann, was da gerade passiert, welche Erwartungen die Leute plötzlich in ihn setzen. In einer kleinen Runde mit Journalisten erzählt er am Vorabend des Politischen Aschermittwochs, dass er sich durchaus manchmal die Frage stellt: „Was macht das alles mit mir selbst?“

Auf die Stimmen der Familie Bergmann kann Schulz jedenfalls zählen. „Das war eine fulminante Rede, er macht nicht nur Hoffnung, sondern ist auch sehr überzeugend“, sagt Winfried Bergmann, als die ersten Biertische zusammengeklappt werden. Und dann packt er noch ein paar Fähnchen und Flyer ein. Für die Enkel. Die dürfen in diesem Jahr zum ersten Mal wählen.

 
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