Als Deniz Yücel am Freitagabend den Charterflug bestieg, der ihn in die Freiheit bringen sollte, versammelten sich in der Innenstadt von Istanbul gerade über hundert türkische Journalisten in einer Kneipe. „Wir sind alle erschöpft von den endlosen Gerichtsverfahren und Verhaftungen, aber wir schöpfen Kraft aus der Solidarität“, hieß es in der Einladung der Vereinigung der „Journalisten, die draußen sind“ zum Solidaritätsabend für die über 150 inhaftierten Kollegen.
Eine bunt gemischte Menge war es, die beim zweiten oder dritten Bier war, als der Flug von Yücel abhob: junge und alte Journalisten, Männer und Frauen, viele davon mit eigener Hafterfahrung und Prozessen am Hals. Gesprächsthema waren die Entwicklungen des Tages: die Verurteilung mehrerer Kollegen zu lebenslanger Haft, der neue Haftbefehl gegen einen gerade erst freigelassenen Fotografen und natürlich die Umstände der Freilassung von Deniz Yücel. Der Spielraum für Journalismus ist eng geworden in der Türkei. Zwar erscheinen die altbekannten Zeitungen, strahlen die gewohnten Fernsehsender ihre Programme aus, doch für eigene Recherchen und kritische Analyse ist dort kein Platz mehr. Wie das in der Praxis funktioniert, zeigte die jüngste Regierungsdirektive zur Berichterstattung über die türkischen Offensive im syrischen Afrin.
Berüchtigter 15-Punkte-Plan
Ministerpräsident Binali Yildirim rief dafür zu Beginn der Militäroperation die Chefredakteure der führenden türkischen Medien zusammen und diktierte ihnen in den Notizblock, wie sie zu berichten hätten. Einen 15-Punkte-Plan hatte der Ministerpräsident dafür parat. Punkt 1 zum Beispiel lautete: In Berichten wie Kommentaren sei stets zu betonen, dass die Operation sich ausschließlich gegen Terroristen richte und Zivilisten geschützt würden.
Zensur und Selbstzensur sind in der Türkei nichts Neues, doch jahrzehntelang behalfen sich türkische Medien dadurch, dass sie zu heiklen Entwicklungen im eigenen Land einfach die Meldungen der internationalen Nachrichtenagenturen druckten; so konnten sie heiße Nachrichten vermelden, ohne die eigenen Journalisten in Gefahr zu bringen. Diese Lücke wurde nun mit Punkt 12 des Plans gestopft: Die Meldungen der Auslandspresse über die türkische Offensive dürfen demnach nicht mehr wörtlich übernommen werden. Aufpassen sollen die türkischen Medien nach Punkt 13 auch, wen sie zu der Militäraktion interviewen: Gesprächspartner, die sich kritisch über die Türkei äußern könnten, seien dabei zu meiden.
Nicht nur tausende türkische Journalisten sind es, die sich in solche Vorgaben fügen – um den Job zu behalten, die Familie zu ernähren, nicht selbst in Verdacht zu geraten, oder auch aus Überzeugung, damit dem Vaterland zu dienen. Beim Staatssender TRT World, der auf Englisch sendet und die türkischen Ansichten in der Welt verbreiten soll, arbeiten viele ausländische TV-Journalisten aus Australien, Neuseeland und anderen anglophonen Ländern und fügen sich in dieselben Richtlinien. Die Fernseh-Profis werden gut bezahlt und können dafür mit TRT-Sprachregelungen leben wie der, dass es bei dem türkischen Vormarsch keine zivilen Opfer gebe – nur tote Terroristen.
Unermüdlich und unerschrocken
Die Journalisten beim Soli-Abend in der Kneipe sind da aus anderem Holz geschnitzt. Trotz Gleichschaltung der allermeisten Medien gibt es noch immer kleine Zeitungen, Agenturen und Internet-Sender in der Türkei, die echten, investigativen und kritischen Journalismus betreiben.
Von den Menschen, die sie machen, sind viele an diesem Abend da: Fatih Polat zum Beispiel, der altgediente und ebenso unermüdliche wie unerschrockene Chefredakteur der linken Zeitung „Evrensel“, oder Gökhan Bicici, der blutjunge Gründer des Bürgerjournalismus-Netzwerkes „Dokuz8Haber“. Unter den Teilnehmern ist auch Yonca Sik, die Ehefrau des investigativen Journalisten Ahmet Sik, der wegen seiner Recherchen schon zum wiederholten Mal in Untersuchungshaft sitzt – diesmal schon seit 15 Monaten.
Die Stimmung in der Kneipe ist dennoch nicht verzagt oder niedergeschlagen, im Gegenteil: Man ist froh zusammen zu sein, Gesprächsstoff gibt es genug, und begeistert gehen die Journalisten mit der Musik der Liveband mit, die später am Abend die Bühne erklimmt. Es sei ja eigentlich ein trauriger Anlass, sagt der Sänger nach der dritten oder vierten fetzigen Nummer, deshalb wolle die Gruppe nun ein schwermütiges Lied vortragen. „Nein, nein“, rufen da die Journalisten aus dem Publikum und winken mit beiden Armen ab: Solange sie in Freiheit sind, wollen sie das feiern.