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Im Land der kleinen Kaiser
Gesellschaft: Über Jahrzehnte war die Familienpolitik in China strikt geregelt. Heute zählt das Reich 280 Millionen Einzelkinder. Eine Geschichte über eine ganze Generation verhätschelter Sprösslinge mit besten Schulen und dicken Geldbörsen.
sta
 |  aktualisiert: 07.06.2017 04:03 Uhr

Als Nächstes soll eine Freundin für Mengmeng her. Seine Mutter hat dafür bereits eine klare Strategie: „Wir kaufen ihm ein Auto, einen BMW oder so, das kommt bei den Mädchen gut an.“ Außerdem bekommt der Sohn ein eigenes Apartment – schon, um als Heiratskandidat bessere Chancen zu haben. Die neue Immobilie muss jedoch in der Nähe der Wohnung der Eltern liegen, damit der Abstand zwischen Sohn und Mutter nicht zu groß wird: „Der Junge braucht mich doch jeden Tag!“ Mengmeng selbst, 20 Jahre und Student an einer teuren Privat-Uni in Peking, sitzt derweil bei offener Tür in seinem Zimmer, zockt gerade am Computer – und widerspricht seiner Mutter mit keinem einzigen Wort.

Mengmengs Fall scheint symptomatisch zu sein für Chinas Gesellschaft. Denn das Riesenreich hat ein Problem: die vielen jungen Leute, die als Einzelkinder aufgewachsen sind. Nach dreieinhalb Jahrzehnten der Ein-Kind-Politik trifft das immerhin auf neun von zehn Jugendlichen in den Städten zu. Es sind Kinder, auf die sich die ganze Aufmerksamkeit ihrer Eltern und Großeltern richtete. „Diese Sachlage bringt in vielen Fällen eigensüchtige, überbehütete Kinder hervor“, warnt Wang Lilin, Expertin für Kinderpsychologie am Jingshi-Hospital in Peking.

In China gibt es sogar einen Namen für die verwöhnten und verhätschelten Sprösslinge: „Kleine Kaiser“ heißen die Kinder, die alles in den Schoß gelegt bekommen, ihre Eltern umgekehrt aber auch herumkommandieren. Oft genießen sie die beste Ausbildung, studieren an hochkarätigen ausländischen Universitäten. Das Problem ist nur: Fürs praktische Leben scheinen sie völlig untauglich. Weil sie noch nie Gemüse schnippeln mussten, nie ihr Zimmer aufräumen oder das Bad putzen mussten.

Die chinesisch-englische Autorin Xinran entwirft in ihrem Buch „Kleine Kaiser“ das Bild einer Generation, die intellektuell brillant und bestens ausgebildet ist, aber an den einfachsten Dingen des Lebens scheitert. Es ist die erste Generation in China, die abseits traditioneller Großfamilien und ihrer hergebrachten Werte aufgewachsen ist.

Im vergangenen Jahr hat die chinesische Regierung die Ein-Kind-Politik aufgehoben. Trotzdem sind die Folgen dieser strikten Familienpolitik unübersehbar: 280 Millionen Chinesen sind in den vergangenen Jahren ohne Schwester oder Bruder aufgewachsen. Ihre Einstellung zum Leben unterscheidet sich grundlegend von der früherer Generationen, die mit sieben oder mehr Geschwistern groß geworden sind und sich als Teil eines größeren Ganzen begreifen. Einzelkinder halten ihre eigenen Wünsche für wichtiger.

Klar: Einzelkinder gibt es in allen Ländern. „In China kommt jedoch ein weiterer Faktor hinzu, der die Sache zu einem Problem machen kann“, sagt Psychologin Wang. In westlichen Ländern fordern Eltern ihre Kinder. Der Nachwuchs soll Herausforderungen meistern, um sich zu entwickeln. „Chinesische Eltern versuchen dagegen, ihrem Nachwuchs alle Probleme aus dem Weg zu räumen“, klagt Wang. Die Kinder sollen es von Anfang an bequem haben.

Das liegt auch daran, dass diese Eltern selbst wenig Erfahrung mit einem normalen Familienleben haben. China war bis Ende der 70er Jahre von politischen Turbulenzen zerrissen. Dörfer wurden in Volkskommunen zusammengeschlossen, Jugendliche aus den Städten aufs Land verfrachtet. Gerade deshalb war diese Generation entschlossen, den Kindern einen besseren Start zu ermöglichen. Mit steigendem Wohlstand fingen die Eltern aber an, ihre Kinder zu verwöhnen.

Mengmeng hat nie in seinem Leben den Abwasch gemacht. Zu seiner Familie kommt täglich eine Haushälterin, die auch sein Zimmer aufgeräumt und seine Kleidung zusammengefaltet hat. Wenn der Junge etwas haben wollte, kauften die Eltern es ihm; wenn er Chips oder Cola wollte, ermutigten sie ihn zum Futtern. Heute ist er sichtbar übergewichtig – und es fehlt ihm die Disziplin, sein Leben in den Griff zu bekommen.

Vor zwei Jahren ist er durch die wichtigste Prüfung im Leben eines Chinesen gerasselt: die Zugangsprüfung für die Universität, wesentlich wichtiger als die Abiturprüfungen in Deutschland. Wer sie nicht besteht, hat keine Möglichkeit, einen qualifizierten Beruf auszuüben. Mengmeng aber hat lieber nächtelang am Computer gespielt, statt zu lernen. Die Eltern waren verzweifelt. So viel Geld für den Privatkindergarten, die beste Nachhilfeschule und für Golfstunden, um Mengmeng den Zugang zur besseren Gesellschaft zu ermöglichen – und jetzt darf er nicht einmal an die Uni?

Doch die Eltern räumten ihm auch dieses Problem aus dem Weg. Sie brachten ihn an einer teuren Privat-Uni unter, die zwar einen klangvollen englischen Namen hat, aber keine weiteren Qualifikationen verlangt als die dicke Geldbörse der Eltern. „Ich weiß genau, dass ich in der Erziehung etwas falsch gemacht habe“, sagt Mengmengs Mutter. „Wir haben ihm immer alle Steine aus dem Weg geräumt.“

Die Wirtschaft hat das Problem erkannt: Vor allem die nach 1990 geborenen Chinesen gelten bei Arbeitgebern als schwierig und unselbstständig. Ein deutscher Manager in Peking berichtet von einer Praktikantin, von der er sich schnell wieder getrennt hat, weil sie sich nicht von ihrem Handy lösen konnte. Als der Drucker einen Papierstau anzeigte, kam sie zum Abteilungsleiter: „Hier blinkt etwas, was soll ich tun?“ Ihr war nicht klar, dass sie sich in so einem Fall an die Sekretärin hätte wenden sollen – aber nicht gleich an den Chef.

Psychologin Wang wundert sich darüber nicht: „Eine vergleichsweise hohe Zahl von Angehörigen der betreffenden Generationen weiß nicht, wie sie mit anderen Menschen als ihren Eltern umgehen soll.“ Das gilt auch für Beziehungen. Die jungen Leute erwarten, dass jemand ihnen die Lösungen für Beziehungsprobleme auf dem Silbertablett serviert – und reagieren trotzig, wenn ihnen niemand hilft. Tatsächlich aber tut sich die Forschung schwer, zu beziffern, wie groß das Problem ist und von ähnlichen Phänomenen in anderen Ländern abzugrenzen. Schließlich klingen Klagen über handysüchtige, unselbstständige Jugendliche auch in deutschen Ohren vertraut.

Studien, die an Testpersonen durchgeführt wurden, die vor und nach der Einführung der Ein-Kind-Politik aufgewachsen sind, zeigen ein klares Muster: Einzelkinder seien pessimistischer, empfindlicher und nervöser, weniger kompromissbereit, sie hätten Schwierigkeiten, anderen Menschen zu vertrauen, und scheuten Risiken, heißt es. Ein führender Wissenschaftler auf diesem Gebiet, Zhao Xudong von der Tongji-Universität in Shanghai, spricht die „Generation Y“ frei: Ja, sie habe eine engere Bindung an ihre Eltern, doch in der modernen Gesellschaft funktionieren diese jungen Leute statistisch gesehen unterm Strich tadellos. „Ihre schulischen Leistungen in Hinblick auf Ausdrucksfähigkeit und Mathematikfähigkeiten sind sogar besser“, schreibt Zhao – vermutlich wegen der intensiven Förderung, die sie als Kleinkinder erhalten.

Statt der Geschwister seien es die Spielkameraden im Kindergarten oder später die Mitschüler, die das Verhalten der Einzelkinder korrigieren, beobachtet Zhao. In eine chinesische Schulklasse gehen bis zu 40 Kinder - da kommt nicht so leicht das Gefühl auf, etwas Besonderes zu sein. Überhaupt betreffe das Problem der verwöhnten Kinder nur die neureiche Schicht in den Städten. Auf dem Land seien die meisten Familien zu arm, um Kinder verhätscheln zu können.

Andere sehen viel größere Probleme in der Generation der Eltern und Großeltern. Wer heute zwischen 50 und 80 Jahren alt ist, hat in jungen Jahren die gesellschaftlichen Experimente von Diktator Mao Zedong durchlebt.

Dieser hatte zeitweise versucht, Familien zu zerstören; Autoritäten wie Eltern, Lehrer und Professoren hatte er zum Feindbild der Jugend erklärt. Die vielen politischen Wechselfälle haben bei diesen Jahrgängen das Gefühl entstehen lassen, dass Regeln nach Belieben anzuwenden sind – und dass jeder rücksichtslos auf seinen Vorteil achten muss, um zu überleben.

Beispiele von schlechtem Benehmen oder Egoismus in der heutigen chinesischen Gesellschaft lassen sich daher genauso gut auf dieses Erbe zurückführen wie auf den Aufstieg der Einzelkinder. Klar ist aber: Die sozialistische Gesellschaft nach der Vorstellung des Diktators Mao, in der alle Loyalität dem Staat und der Arbeitseinheit gehört, hat sich nicht erfüllt – im Gegenteil. Heute ist die Bindung der Kinder an die Eltern enger denn je. Sie sind beste Freunde, Berater, Problemlöser.

Mengmeng war ein paar Monate im Ausland, als Teil seiner Uni-Ausbildung. Fast jeden Tag schickte er den Eltern eine Nachricht, fragte um Rat – wegen der Wäsche, wegen des Essens, wegen irgendetwas anderem. Heute wohnt der 20-Jährige wieder zu Hause. Für seine Mutter bedeutet das neue Projekte – ein tolles Auto, eine eigene Wohnung und, wie gesagt, eine Freundin für Mengmeng. Sie wird tun, was sie kann.

 
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