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BAGDAD
Im Irak droht neuer Bürgerkrieg
Von unserem Korrespondenten Martin gehlen
 |  aktualisiert: 10.01.2013 19:09 Uhr

Für Iraks Sunniten ist das Maß voll. „Wir leben wie Außenseiter“, „Raus mit dem Iran“ und „Maliki ist ein Lügner“, skandierten die Demonstranten. Seit Tagen blockieren Zehntausende in Ramadi und Fallujah die Autobahn zwischen Bagdad und Jordanien, eine der wichtigsten Verkehrsadern des Landes. Auch in Mosul, Kirkuk, Tikrit und Bagdad sind die Menschen auf den Straßen – die größte Protestwelle der sunnitischen Minderheit seit Jahren. Sie fordern ein Ende des schiitischen Machtmonopols und ein Ende der Hatz auf sunnitische Politiker. Sie verlangen, dass die Anti-Terror-Gesetze des Landes nicht länger nur gegen sie ausgelegt und sämtliche weibliche Häftlinge ihrer Glaubensgruppe freigelassen werden.

Ausgelöst wurden die Unruhen kurz vor Weihnachten, als Regierungschef Nuri al-Maliki neun Leibwächter des sunnitischen Finanzministers Rafaie al-Esawi verhaften ließ. Ihnen wird vorgeworfen, an politischen Morden beteiligt gewesen zu sein. Ein Jahr zuvor hatte sich der Premier bereits in einer ähnlichen Aktion den sunnitischen Vizepräsidenten Tareq al-Hashemi vorgeknöpft. Dieser floh in die Türkei ins Exil, während er zu Hause „wegen terroristischer Tätigkeiten“ zum Tode verurteilt wurde.

Autonome Region

Und so hinkt das kriegszerstörte Land von einer politischen Krise zur nächsten, immer wieder hart am Rande eines neuen Bürgerkriegs. Das Parlament in Bagdad liegt lahm, wichtige Gesetze werden nicht verabschiedet. Stromnetz, Schulsystem, Gesundheitsversorgung und Straßen sind in einem beklagenswerten Zustand. Und seit das Baath-Regime in Syrien wankt, träumen immer mehr irakische Sunniten von einer eigenen autonomen Region, angrenzend an Jordanien und Syrien – ähnlich wie die Kurden im Norden. Ein Sturz des Alawiten Bashar al-Assad durch die sunnitischen Rebellen, so das Kalkül, werde ihrem Anliegen regionalpolitischen Rückenwind geben. Umgekehrt fürchten sie, der Iran könnte nach dem Verlust seines engsten Verbündeten in Damaskus versuchen, Bagdad künftig noch stärker an die Kandare zu nehmen.

Denn auch zehn Jahre nach der US-Invasion sind die Iraker nicht Herr im eigenen Haus. Kaum ein Tag vergeht ohne Bombenanschläge, obwohl inzwischen auf 50 Einwohner ein Polizist oder Soldat kommt. Nach Angaben des „Iraq Body Count“ wurden im Jahr 2012 insgesamt 4471 Iraker Opfer politischer Gewalt, der höchste Stand seit 2009 und gut 400 Tote mehr als im Vorjahr 2011.

Schiitischer Volkstribun

Politischer Profiteur der inneren Hochspannung ist vor allem der schiitische Geistliche Muqtada al-Sadr, der sich neuerdings als irakischer Nationalist und Volkstribun stilisiert. Die Anliegen der sunnitischen Demonstranten seien legitim, ließ der schillernde Prediger ausrichten. Demonstrativ besuchte er in langer Robe und schwarzem Turban die chaldäische Marien-Kathedrale, in der vor zwei Jahren El-Kaida-Attentäter während der Sonntagsmesse 53 Gläubige hinrichteten. Schweigend und aufmerksam nickend ließ er sich von Pfarrer Ayssar al-Yas die Renovierungsarbeiten erläutern. Anschließend fuhr al-Sadr weiter zur Gailani-Moschee, einem der populärsten sunnitischen Gebetsorte in der irakischen Hauptstadt. „Einiger von Schiiten und Sunniten“ ließen ihn am Eingang die Schaulustigen hochleben, Frauen überschütteten den würdevoll winkenden Gast mit Süßigkeiten.

Sein Konkurrent und Regierungspartner Nuri al-Maliki dagegen machte ganz im Stil nahöstlicher Autokraten „ausländische Elemente und Verschwörer“ für die Unruhen verantwortlich. Kein Land der Welt toleriere die Blockade von Autobahnen, erklärte Maliki und drohte den Protestierern mit hartem Vorgehen. Am Mittwoch ließ er die Grenze zu Jordanien auf unbestimmte Zeit schließen. Die sunnitischen Demonstranten jedoch gaben sich unbeeindruckt. Nachgeben wollen sie auf keinen Fall. Und einer ihrer Anführer deklamierte: „Es ist höchste Zeit – entweder wir handeln oder wir sterben.“

 
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