Der Wind heult durch die rostigen Stahlskelette. Zwei Arbeiter waten durch den mehlfeinen Staub, ständig die ratternden Ketten und Schüttelbänder im Auge. Wer sich als Fremder hier länger aufhält, dem schmerzen hinterher tagelang die Lungen. Mahlend langsam drehen sich die gigantischen Stahlzylinder an den Gerüsten, in denen das Phosphat für den Export gewaschen wird. Unter freiem Himmel lagern die grünlich-grauen Halden des wertvollen Minerals, aus dem sich Waschpulver, Farbe, Futtermittel und Dünger produzieren lassen. 6000 Quadratkilometer groß ist Tunesiens Phosphatbecken nahe der Grenze zu Algerien. Hier liegen die wichtigsten Bodenschätze des Landes.
„Wir ersticken, wir brauchen neuen Sauerstoff.“ Rihda Labidi hat es sich im Schatten bequem gemacht, mitten in seiner privaten Oase. Sein andalusischer Garten, wie er ihn nennt, hat etwas Unwirkliches. Genauso wie der unerschütterliche Optimismus des 58-Jährigen. Einst war hier eine Müllkippe, die der Unternehmer vor 15 Jahren billig von der Kommune erwarb. Gegen den allgegenwärtigen Staub friedete er das Areal mit einer hohen Mauer ein und pflanzte 600 Bäume. Inzwischen grünt im Inneren ein Palmengarten mit ausladenden Wedeln, duftenden Blüten und Flanierwegen. Eingebettet in die Natur liegt eine Freilichtbühne, ein Puppentheater für Kinder, ein Saalbau mit weißen Dachzinnen für Kino und Konzerte. Der Parkplatz draußen ist ausgelegt für 1000 Autos.
Kultur, Theater, Filme und Konzerte – mit diesem Rezept will sich Rihda Labidi gegen Depression in seiner Heimatstadt Gafsa stemmen, der Kreisstadt mit 360 000 Einwohnern im Kern der Phosphatregion. Noch existiert der künftige Festivalkalender für Tunesiens Süden nur in seinem Kopf. Bill Clinton will er als Redner hierher holen, Steven Spielberg einladen, genauso wie die französischen Chansonsänger Michel Sardou und Enrico Macias. „Gafsa muss in aller Munde sein, muss eine Adresse werden, an der niemand mehr vorbeifährt“, sagt er. In zwölf Monaten ist sein privates Kulturzentrum fertig, seine persönliche Revolution und seine ganz besondere Rache an Diktator Ben Ali.
Vor 20 Jahren wurden er und sein Bruder vom Regime systematisch am Studium gehindert. Immer zur Examenszeit kam die Polizei und nahm die beiden fest. Mehrere Jahre ging das so, bis sie schließlich aufgaben. Doch sie schworen sich, möglichst viel Geld zu machen und später alles nachzuholen, was ihnen an Bildung und Kultur verwehrt wurde. Rihda Labidi wurde Bauunternehmer, ist heute einer der reichsten Männer in Gafsa. Zwischendurch leistete er sich ein Jahr Aleppo und studierte arabische Musik. Seitdem parliert er gekonnt über Sufismus, die verschiedenen islamischen Rechtsschulen sowie die kulturelle Verödung salafistischer Kreise.
Gafsa hat historische Wurzeln. Die Stadt gibt es schon seit der Römerzeit, in der modernen Geschichte Tunesiens profilierte sie sich als Zentrum der Arbeiterbewegung. Salafisten und Muslimbrüder haben hier wenig zu melden. „Wir sind die eigentliche Wiege der tunesischen Revolution“, sagen die Bewohner. Im Januar 2008, drei Jahre vor dem Arabischen Frühling, begann in Gafsa der Aufstand gegen das allmächtige Regime in Tunis, lange bevor sich der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi in Sidi Bouzid anzündete. Tausende von Minenarbeitern gingen gegen Ben Ali auf die Barrikaden – bis dahin die größte Protestbewegung in der tunesischen Geschichte.
Doch genauso wie dem 120 Kilometer entfernten Sidi Bouzid hat auch Gafsa die revolutionäre Vorreiterrolle bis heute nichts gebracht. Die Arbeitslosigkeit liegt inzwischen bei 30 Prozent, die meisten sind junge Leute, 40 000 mit nutzlosem Universitätsdiplom.
Die neu errungene Freiheit bleibe wertlos, wenn sie nicht mit sozialen und ökonomischen Verbesserungen einhergehe, warnte kürzlich Tunesiens Präsident Moncef Marzouki. Anderenfalls werde Tunesien früher oder später wieder in eine Diktatur zurückfallen.
Die jahrzehntelang vernachlässigte Minenregion aber hat das demokratisch gewählte Staatsoberhaupt bisher nicht besucht, das hat er mit seinem diktatorischen Vorfahren Ben Ali gemeinsam. Der ließ sich in seinen 24 Machtjahren ein einziges Mal blicken, obwohl die 5000 Minenarbeiter Jahr für Jahr 400 bis 500 Millionen Euro zum Staatsetat beisteuerten. Der Reichtum aus dem Landesinneren wurde in die Küstenregionen investiert oder verprasst. Für die Menschen im Phosphatbecken fielen nur karge Häuschen mit Wellblechdächern oder unverputzte Betonschachteln ab. Die Straßen sind löchrig. Das Trinkwasser schmeckt salzig und seifig. Die hohe Zahl der Krebstoten ist nach wie vor ein Tabu. Und bei allen, egal, ob Jung oder Alt, bildet sich ein rätselhafter brauner Streifen quer über die Zähne.
„Außer Krankheiten hat uns das Phosphat nichts gebracht“, sagt Hassen bin Abdullah. 2008 einer der Drahtzieher des Aufstands, seit neun Jahren arbeitslos, vertreibt er sich die Zeit am liebsten im Café Zentrum mit Blick auf das alte, verblichen-grüne Modell einer Diesellok mit vier Phosphatwaggons. Unter dem Arm trägt er einige Exemplare der Zeitung „Stimme des Volkes“ des linken Volksfrontbündnisses. „Seit der Revolution verwalten wir uns selbst“, sagt der 37-Jährige. „Es gibt keinen Bürgermeister und keinen Stadtrat mehr.“ Die Polizei zeige sich nicht mehr, verschanze sich in ihren Büros und mache nur noch Papierkram.
Und so ist die wichtigste Säule des Ortes jetzt Gewerkschaftschef Adnane Hajji, dessen dröhnende Stimme und breite Pranken natürliche Autorität ausstrahlen. Er hat viel erlebt, saß nach dem Minenstreik 16 Monate im Gefängnis, wurde geschlagen und gefoltert. „Doch so etwas wie jetzt, das hat es noch nie gegeben“, sagt er. In dem Versammlungsraum des schäbigen Gewerkschaftsbaus riecht es nach kaltem Rauch. 24 abgewetzte Stühle reihen sich entlang der Wände, darüber hängen verblichene Porträts früherer Vorsitzender des UGTT, wie sich der tunesische Dachverband der Gewerkschaften nennt. „Wir haben keinerlei Kontakt mehr zu der Regierung in Tunis“, erklärt der 55-Jährige. „Wir haben jetzt mehr Freiheit, alles andere aber wird schlimmer und schlimmer.“ Er und seine Mitstreiter fordern, künftig sollten 20 Prozent der Phosphaterträge in der Minenregion bleiben und deren Bewohnern zufließen. Nach ihrer Kalkulation sind das mindestens 80 Millionen Euro im Jahr. Doch niemand in der fernen Hauptstadt will davon etwas hören, auch nicht Präsident Moncef Marzouki. „Alles ist blockiert“, sagt Adnane Hajji und zuckt mit den Achseln. „Wenn nicht bald etwas geschieht, wird alles erneut explodieren.“