Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) soll bei dem Politikwissenschaftler Hans-Otto Mühleisen abgeschrieben haben. Der frühere Professor der Universität Augsburg hat kein Problem damit.
Hans-Otto Mühleisen: Ich habe die Arbeit von Norbert Lammert im Original vor mir liegen und kann ganz klar sagen: Nein, ich fühle mich nicht als Plagiatsopfer.
Mühleisen: Er hat sorgfältig darauf hingewiesen, dass er für seine praktische Untersuchung politischer Parteien auf theoretische Grundlagen zurückgreift, die ich in meiner Dissertation und wir in unserem Sammelband erarbeitet hatten. Ja, er übernimmt meine Belege. Aber er tut ja nicht so, als hätte er sich selbst noch mal mit den von mir genutzten Quellen beschäftigt. Ich habe jedenfalls selten einen wissenschaftlichen Text gelesen, in dem meine Dissertation so häufig zitiert wurde.
Mühleisen: Ich würde diese Art des Zitierens in jeder Doktorarbeit genauso akzeptieren, ja.
Mühleisen: In Zeiten des Internets ist die Versuchung natürlich größer, Sätze und Zitate einfach in den eigenen Text hineinzukopieren. Früher hat man so etwas auf Karteikarten geschrieben, sich darüber Gedanken gemacht und diese später mit eigenen Worten wiedergegeben. Kopierte Stellen lassen sich heute über Suchmaschinen leicht finden. Plagiatsjäger haben es also auch einfacher und entwickeln einen gewissen Verfolgungseifer.
Mühleisen: Ich finde es unangenehm, wenn jemand aus der Anonymität heraus arbeitet. Es gibt ja Leute, die sich als Plagiatsjäger einen eigenen Geschäftsbereich geschaffen haben. Da fragt man sich schon, welche Interessen dahinterstehen. Wissenschaftliche? Finanzielle? Politische?
Mühleisen: Ich will das nicht beurteilen. In jedem Fall hat der Plagiatsjäger selbst schlampig gearbeitet und zum Teil Vorwürfe erhoben, die sich schnell als falsch erweisen lassen. Er behauptet etwa, Lammert hätte von mir einen Begriff des Soziologen und Gesellschaftstheoretikers Niklas Luhmann übernommen, den es bei diesem gar nicht gibt. Richtig ist, dass er genau auf der genannten Seite steht.
Mühleisen: Eine wissenschaftliche Arbeit sollte auf Dauer Bestand haben. Da braucht man nach dem Anspruch, dass Wissenschaft der Wahrheit verpflichtet sei, keine Verjährung. Problematisch ist freilich, dass die Aberkennung eines akademischen Grades die berufliche Existenz auf unbegrenzte Zeit gefährden kann, während zum Beispiel der Betrug bei einem Staatsexamen nach einigen Jahren ohne weiteren Schaden für den Berufsweg verjährt. In jedem Fall sollte man bei der Beurteilung den wissenschaftskulturellen Kontext und die Zeit, in der eine Arbeit entstanden ist, beachten. Mit den Maßstäben von heute müsste man ansonsten wohl manchen Titel aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aberkennen.
Hans-Otto Mühleisen
Von 1978 bis 2008 dozierte Professor Hans-Otto Mühleisen an der Universität Augsburg. Er wirkte dort auch als Pro-Rektor und Dekan. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte waren Politische Theorie und Internationale Politik, er hat sich auch mit dem Menschenbild in Politik und Politikwissenschaft beschäftigt. Mühleisen hat zahlreiche Doktorarbeiten betreut. Heute lebt der 71-Jährige in St. Peter im Schwarzwald, wo er unter anderem eine alte Klosterbibliothek betreut. Foto: privat