Die Landschaft ist wie gemalt. Am Obersalzberg in Berchtesgaden stehen heute einige private Häuser und ein Luxushotel. Bis auf das Bergrestaurant Kehlsteinhaus sind auf diesen sanft ansteigenden Wiesen fast keine Gebäude aus dem Dritten Reich übrig geblieben, in denen zwischen 1933 und 1944 Adolf Hitler und seine Entourage lebten.
Das Nazi-Reich wurde sogar von hier regiert – nämlich immer dann, wenn der „Führer“ an seinem Lieblingsort weilte. Fast ein Viertel seiner Amtszeit verbrachte Hitler hier. Und auch bald 75 Jahre später ist er immer noch präsent – glücklicherweise entzaubert. Denn die Gefahr war groß, dass hier ein Wallfahrtsort für alte und neue Nazis entstehen könnte.
Dass dies nicht geschah, hat auch mit dem Dokumentationszentrum Obersalzberg zu tun, das es seit 20 Jahren gibt. „Diese Erfolgsgeschichte zeigt gerade mit Blick auf die kontroversen Anfänge, wie wichtig es ist, eine offensive Aufklärung über die NS-Vergangenheit zu betreiben“, sagt Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München–Berlin.
Wie sollte man mit einem Täterort umgehen?
Als die Dokumentation 1999 gegründet wurde, war der Krieg schon gut 50 Jahre vorbei. Deutschland hatte sich seiner Vergangenheit gestellt. Etwa 8,5 Millionen Deutsche waren Mitglied in der NSDAP gewesen. NS-Verantwortliche waren in Nürnberg und in Nachfolgeprozessen verurteilt worden. Die letzten Kriegsverbrecher wurden Anfang der 50er Jahre in Landsberg gehängt. Danach gab es im Land keine Todesstrafe mehr. Deutschland war demokratisch geworden. An Erinnerungsorten wie dem früheren Konzentrationslager Dachau wird das Gedenken an die Opfer aufrechterhalten. Doch wie sollte man mit einem „Täterort“ umgehen?
Heile-Welt-Kulisse, während der Weltkrieg tobte
Auf dem Obersalzberg hatten sich Nazi-Bonzen breitgemacht, während Wehrmachtsoldaten für „Führer“ und Vaterland starben. Menschen, die nicht in das Bild nationalsozialistischer Provenienz passten, wurden damals vergast oder „durch Arbeit“ vernichtet, während Hitler und seine Lebensgefährtin Eva Braun inmitten einer Heile-Welt-Kulisse auf den „Berghof“ einluden.
Führende Parteigrößen wie Hermann Göring, Albert Speer oder Martin Bormann hatten sich hier einquartiert, aber auch ausländische Diplomaten schauten vorbei. 1938 war der britische Premier Neville Chamberlain zu Gast, 1939 der polnische Außenminister Jozef Beck. Ein Dreivierteljahr später fiel Deutschland in Polen ein. Henriette von Schirach, die Frau des Reichsjungendführers, war ebenso auf dem Berghof. 1943 soll sie bei einem Besuch Hitler auf die Judendeportationen angesprochen haben und wurde laut Zeitzeugen fortan nicht mehr eingeladen. Zu dieser Zeit liefen die Krematorien in den Konzentrations- und Vernichtungslagern auf Hochbetrieb.
Einen Lern- und Erinnerungsort entwickeln
An „diesem historischen Ort“ sollte nun die Möglichkeit gegeben werden, „sich mit der Geschichte des Obersalzbergs und der Geschichte des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen“, sagt Professor Andreas Wirsching. Darum hatte der Freistaat Bayern das Institut für Zeitgeschichte beauftragt, einen „Lern- und Erinnerungsort“ zu entwickeln und zu betreuen. Seit der Eröffnung haben über drei Millionen Menschen die Dokumentation besucht. „Trotz der Baustelle, die wir seit 2017 wegen des Erweiterungsbaus haben, war auch heuer der Andrang sehr groß“, sagt Wirsching. Da die Besucherzahl jedes Jahr stieg, hatte der Freistaat 2013 beschlossen, die Ausstellung zu erweitern. Geplant war sie zunächst für 30 000 Besucher.
350 Exponate und zahlreiche multimediale Elemente
Auf einer mit 800 Quadratmetern deutlich vergrößerten Fläche entsteht nun die neue Dauerausstellung „Idyll und Verbrechen“. Die Kuratoren des IfZ haben dafür ein ambitioniertes Konzept entwickelt, das anhand von mehr als 350 Exponaten und zahlreichen multimedialen Elementen die Geschichte des Obersalzbergs neu vermitteln wird.
Das gesellschaftliche Interesse an der Aufarbeitung der NS-Zeit lässt Wirsching zufolge nämlich nicht nach: „Ich glaube, dass viele Menschen auch durch die beunruhigenden politischen Entwicklungen der Gegenwart ein sehr feines Sensorium dafür haben, wie wichtig es ist, sich mit der NS-Zeit auseinanderzusetzen.“ Dies sei auch eine Reaktion auf gefährliche Tendenzen, die Verbrechen der NS-Zeit zu verharmlosen. „Gerade die AfD hat hier mit Björn Höckes Forderung nach einer erinnerungspolitischen 180-Grad-Wende und Alexander Gaulands ,Vogelschiss‘-Vergleich immer wieder versucht, die Aufarbeitung der NS-Zeit infrage zu stellen“, kritisiert Andreas Wirsching. „Solche Vorstöße sind Gift für das gesellschaftliche Klima“, sagt der Historiker.
Vielfältiger und detailgenauer Blick auf die Geschichte
Tatsächlich ist es so: Wer die Dokumentation betritt, wird wohl strenger beäugt, als es in anderen Ausstellungen der Fall ist. Wer sich als der rechten Szene zugehörig zu erkennen gibt, zum Beispiel durch äußere Symbole, muss das Zentrum verlassen. „Die Kassierer und das Aufsichtspersonal sind dazu angehalten, die Hausordnung durchzusetzen“, sagen Mitarbeiter. Einem rechten Publikum werden Tür und Tor nicht geöffnet.
Der Blick auf die Geschichte wird vielfältig und detailgenau wiedergegeben. Im Eingangsbereich drängen sich die Besucher dicht aneinander, um einen Blick auf die Fotos und Informationstafeln zu werfen. Dort erfährt man unter anderem: Adolf Hitler hatte das kleine Landhaus „Wachenfeld“ am Obersalzberg zunächst gemietet, nach der Machtergreifung kam der Kauf und schließlich der Ausbau zum Pomp-Berghof. Fast symbolisch führt die Treppe im Dokumentationszentrum ins Erdgeschoss hinab. Hier geht es sozusagen in die Abgründe der NS-Ideologie. Danach steigt der Besucher ein weiteres Mal ab.
Die Präsentation geht unter die Haut
Tief im Untergrund folgen die Themen „Widerstand und Emigration“ sowie „Hitlers Außenpolitik“. Im Inneren des Berges, in einem begehbar gemachten Teil des Bunkersystems, befinden sich die Medienräume, wo unter anderem Ton- und Filmaufnahmen vorgeführt werden. Die Präsentation vor allem in diesem Bereich geht unter die Haut. Daher wird ein Besuch für Kinder unter zwölf Jahren nicht empfohlen.
Wie aktuell das Thema der NS-Zeit noch ist, zeigt auch der rechte Terrorakt in Halle. „Nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern bis hin zu den USA haben sich in letzter Zeit antisemitische Übergriffe oder offene Gewaltakte gegen Juden gehäuft. Ich halte es deshalb für ausgesprochen wichtig, dass gerade die Mitte der Gesellschaft sehr deutlich macht, dass es für Antisemitismus in Deutschland keinen Platz geben darf“, sagt Wirsching.
Gesprengt und an den Freistaat Bayern übergeben
Allerdings könne man die Fälle von rechtsextremem Terror nicht einfach auf eine mangelnde Auseinandersetzung mit der NS-Zeit reduzieren. „Ich glaube, das wäre zu kurz gesprungen. Bei solchen Tätern kommen sicher viele Faktoren zusammen und das Muster erinnert doch sehr stark an Vorläufer wie Anders Breivik in Norwegen oder den Attentäter von Christchurch“, betont der Historiker. „Hier wollte jemand offenbar sein verpfuschtes Leben mit einer vermeintlich großen Tat, einem Tabubruch kompensieren und sich dafür weltweit im Internet feiern lassen.“
Adolf Hitler übrigens sah den Obersalzberg am 14. Juli 1944 zum letzten Mal. 1947 errichteten die Amerikaner hier ein Erholungszentrum, das Armed Forces Recreation Center. Mit Tennisplätzen, Skilift und Golfplatz. 1952 wurde der „Berghof“ gesprengt. Nachdem die US-Truppen abgezogen waren, wurde der Obersalzberg 1996 an den Freistaat Bayern übergeben.