Am Tag nach der ersten Wahlrunde wachten Frankreichs Wähler verkatert auf und noch immer unangenehm überrascht – zumindest die vier Fünftel von ihnen, die nicht für Marine Le Pen gestimmt hatten. Meinungsforscher hatten zwar relativ klar vorhergesehen, dass der sozialistische Herausforderer François Hollande mit 28,6 Prozent der Stimmen vor Amtsinhaber Nicolas Sarkozy mit 27,3 Prozent liegen würde. Doch Le Pens Stärke unterschätzten sie.
Mit einem Ergebnis von 17,9 Prozent übertrumpfte die Vorsitzende des Front National sogar das beste Resultat ihres Vaters Jean-Marie Le Pen, der 2002 mit 16,8 Prozent überraschend die Stichwahl erreicht hatte. Damit gilt die Rechtspopulistin als Gewinnerin dieses Votums, noch bevor der nächste Präsident feststeht. Ob dieser Hollande oder Sarkozy heißt, wird am 6. Mai ermittelt.
Sozialist hat noch Reserven
Der Sozialist tritt als klarer Favorit an, weil er auf die Stimmen einer breiten Anti-Sarkozy-Front bauen kann. Nicht entmutigt von ihren unpräzisen Prognosen, veröffentlichten die Meinungsforschungsinstitute am Montag neue Erhebungen, nach denen sich eine linke Gefolgschaft hinter Hollande sammeln dürfte, während Sarkozy solche Reserven fehlen.
Hinter Hollande sammeln sich der Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon, der mit 11,1 Prozent der Stimmen zwar hinter den Erwartungen zurückblieb, aber eine Basis stark mobilisierter Anhänger hinter sich schart, sowie die mit 2,3 Prozent glücklose Grünen-Kandidatin Eva Joly. Der Favorit deutete noch am Abend in einer optimistischen Rede an, weiter auf die Unterstützung der Sarkozy-Gegner zu setzen. Die Wähler des Zentrumspolitikers François Bayrou, der lediglich auf 9,1 Prozent kam, dürften sich bei der zweiten Runde dreiteilen in Stimmenthalter, Sarkozy- und Hollande-Wähler. 2007 votierten sie noch mehrheitlich für Sarkozy.
Die Klatsche für den Präsidenten ist historisch: Noch nie lag ein Amtsinhaber im ersten Wahlgang zurück – nicht einmal Valérie Giscard d'Estaing, der 1981 in der zweiten Runde François Mitterrand unterlag. So in die Enge getrieben, bewies Sarkozy aber sogleich seine Kämpferqualitäten. Üblicherweise findet zwischen beiden Wahlrunden ein Fernsehduell statt, bei dem sich die Kontrahenten nichts schenken – Sarkozy schlug drei vor und wartete Hollandes Nein ab, um ihm Feigheit vorzuwerfen. Er sucht die direkte Konfrontation. Zum Tag der Arbeit am 1. Mai kündigte er eine große Feier an, „für all diejenigen, die hart arbeiten und leiden“. Er respektiere die Wähler des Front National, verstehe ihre Sorgen. So versucht der selbst ernannte „Kandidat des Volkes“, Marine Le Pen etwas entgegenzusetzen, die sich als einzige Gegenkraft zu „den Eliten“ stilisiert und vom Frust derer profitiert, die sich im Stich gelassen fühlen. „Die Krise hat gewählt. Massiv“, kommentierte die Tageszeitung „Le Monde“ gestern Le Pens Ergebnis.
Ventil der Angst
Nicht nur hat sie als Vorsitzende die Partei mit ihrem rauen Charme und der Erweiterung des Programms auf soziale und wirtschaftliche Themen – wenn auch so umstrittene wie der Forderung nach einem Ausstieg aus dem Euro – aus der Schmuddelecke geholt. Vor allem dient Le Pen als Ventil der Angst – vor Überfremdung und der Globalisierung, die immer mehr Arbeitsplätze schluckt; vor einer Krise, auf die die etablierten Politiker keine Antwort finden.
Die 43-Jährige tut es mit pauschaler Kritik und dem Versprechen, Frankreich wieder zu alter Stärke zurückzuführen in der Rückbesinnung auf seine Identität – und zwar möglichst ausländerfrei. Sie spekuliert auf eine Niederlage Sarkozys und das Zerbersten seiner konservativen Partei, um mit Teilen davon eine alternative Rechts-Front aufzubauen. Das Votum verleiht ihr Kraft dazu.
Merkel setzt weiter auf Sarkozy
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) unterstützt bei der französischen Präsidentenwahl weiter den konservativen Amtsinhaber Nicolas Sarkozy. Nach Angaben von Vize-Regierungssprecher Georg Streiter wird Merkel in den Wochen bis zur Stichwahl Sarkozy aber nicht mit einem Auftritt zur Seite stehen. Dies hatte die CDU-Chefin ursprünglich geplant. Merkel werde mit jedem anderen Präsidenten in Paris gut kooperieren, betonte der Sprecher am Montag in Berlin. Die deutsch-französische Freundschaft sei unabhängig von den handelnden Personen. Nach den Worten von Außenminister Guido Westerwelle (FDP) wird Deutschland auch bei einem Sieg von Hollande eine enge Zusammenarbeit suchen. Es sei gut, „dass die Stichwahl jetzt zwischen zwei ausgewiesenen demokratischen Kandidaten stattfindet, die für Europa und die deutsch-französische Freundschaft eintreten“, erklärte Westerwelle. „Deutschland wird mit jedem Präsidenten, den das französische Volk wählt, eine gute und enge Zusammenarbeit suchen.“
Für SPD-Chef Sigmar Gabriel hat der Ausgang des ersten Wahlgangs gezeigt, wie groß der Wunsch der Franzosen nach einem politischen Wechsel sei:„Der Erfolg von Hollande ist über Frankreich hinaus ein Signal dafür, dass die Politik von Merkel und Sarkozy eben nicht alternativlos ist.“ TEXT: dpa