Ali Tulasoglu kann sich über mangelnde Aufmerksamkeit derzeit nicht beklagen. Der Ministerpräsident war schon da, die Oberbürgermeisterin von Chemnitz sogar zweimal. Am Freitag trifft der 46-Jährige die Bundeskanzlerin. Der Anlass für so viel Zuwendung ist nicht schön: Tulasoglu hat vor kurzem sein Restaurant verloren. Die Scheiben wurden eingeworfen und alles ging in Flammen auf. „Wir hatten noch Glück im Unglück“, sagt der Türke am Telefon. „Die Leute, die mit ihrem Baby über dem Restaurant wohnen, haben das Feuer rechtzeitig bemerkt“, erzählt er. Seither fühlt er sich in Chemnitz, wo er seit 1994 lebt, nicht mehr wohl.
Zweieinhalb Monate liegen die rassistischen Ausschreitungen, die bundesweit für Schlagzeilen sorgten, nun zurück. Nachdem der Deutschkubaner Daniel H. bei einer Auseinandersetzung mit drei Asylbewerbern am Rande des Stadtfestes durch Messerstiche gestorben war, organisierten zunächst rechte Hooligans und später verschiedene rechte Gruppen mehrere Demonstrationen „gegen Ausländerkriminalität“. In der Folge kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen gegenüber Polizisten, Journalisten und auch gegenüber ausländisch anmutenden Passanten, die regelrecht gejagt wurden. Seither ist die drittgrößte sächsische Stadt nicht zur Ruhe gekommen.
Jeden Freitag demonstriert die rechtspopulistische Gruppe „Pro Chemnitz“. Tulasoglus Restaurant „Mangal“ war bereits das vierte, das attackiert wurde. Vorangegangen waren Angriffe auf das jüdische Restaurant „Shalom“, dessen Inhaber verletzt wurde, auf das persische Restaurant „Schmetterling“ und das ebenfalls persische Lokal „Safran“, dessen Besitzer ins Krankenhaus musste. Der Staatsschutz ermittelt mit Verdacht auf rechtsextremen Hintergrund.
Angela Merkel will am Freitag mit Chemnitzern ins Gespräch kommen. Ihr Besuch komme viel zu spät, beklagte Chemnitz? Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) vorab gegenüber dem MDR. Jetzt werde das die Stadt wieder aufwühlen. Zuletzt waren schon Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Familienministerin Franziska Giffey (beide SPD) auf Stippvisite. Es sind Zeichen der Annäherung. Versuche, die gestörte Verbindung zwischen Volk und Eliten wieder zu kitten.
Wie sehr es da hakt, weiß David Begrich. Der Rechtsextremismus-Experte beim Verein Miteinander – Netzwerk für Demokratie und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt e.V. ist 46 Jahre alt und selbst in der DDR groß geworden. In den 1990ern gehörte er zu den Linken, die in Rostock-Lichtenhagen Flagge gegen Nazis zeigten. Die damals jungen Leute, seine Generation, sind die heute 40-Jährigen, die in Chemnitz demonstrieren, hat Begrich beobachtet.
In der Soziologie spricht man von der Generation Hoyerswerda. „Die damals zwischen 15- und 25-Jährigen haben erlebt, dass man ein politisches System stürzen kann. Und sie haben erfahren, dass schrankenlose rassistische Gewalt nicht sanktioniert wird“, beschreibt Begrich die kollektive politische Erfahrung von Mauerfall und den Ausschreitungen von Hoyerswerda und Lichtenhagen. Das damals Gelernte kommt jetzt wieder zum Tragen. Von der BRD tief enttäuscht, hätten sich viele von der Demokratie abgewandt. Kann man solchen Ansichten wirklich mit einem Kanzler-Besuch beikommen? Bei den überzeugten Neonazis wird das nichts ausrichten, aber Mitläufer könnten das schon als positives Signal werten. Begrich hat durchaus Hoffnung. Die Kanzlerin sei nach Heidenau, Dresden und Görlitz erfahren genug im Umgang mit rechtem Hass, um eine souveräne Antwort zu finden.
Die Kanzlerin wird sich am Freitag Zeit nehmen. Am Rande eines Jugendtrainings des Basketballvereins Niners Chemnitz e.V. will sie sich über Werte und das Miteinander im Verein austauschen. Dann trifft sie Vertreter von Land und Stadt sowie Ali Tulasoglu. Schließlich organisiert die „Freie Presse“ eine Leserdebatte, für die sich Abonnenten bewerben konnten und ausgelost wurden. Durchaus möglich, dass darunter auch Merkel-muss-weg-Rufer sind.
Tulasoglu weiß noch nicht, was er der Kanzlerin eigentlich sagen soll. „Natürlich, dass sie etwas unternehmen soll. Aber es weiß ja keiner, wie man da wieder Ruhe reinbringt.“ Auch wie es für ihn und seine Familie weitergeht, kann er nicht sagen: Einerseits wolle er das Lokal wieder aufbauen. „Aber da ist auch die Angst.“ Solange die Brandstifter frei herumlaufen, könne seine Familie nicht mehr ruhig schlafen.
Die rechte Szene in Chemnitz
Chemnitz ist schon seit der Wiedervereinigung ein Sammelbecken der rechtsextremen Szene“, sagt der Politikwissenschaftler Hajo Funke aus Berlin. Der Verfassungsschutzbericht von Sachsen für 2017 weist die Stadt dagegen nicht als rechte Hochburg aus.
Der rechten Szene wurden zwischen 150 und 200 Personen zugerechnet. „Im Vergleich zum Vorjahr ging das rechtsextremistische Personenpotenzial somit zurück und lag im sachsenweiten Vergleich im mittleren Bereich“, heißt es in dem Bericht des Freistaats. Zum Vergleich: Laut schleswig-holsteinischem Innenministerium liegt die Zahl von Personen des rechtsextremistischen Personenpotenzials in der Landeshauptstadt Kiel im mittleren zweistelligen Bereich.
Die Zahl rechtsextremer Straftaten lag 2017 in Chemnitz bei 160 (2016: 242) Fällen, darunter waren sechs Gewalttaten (15). In Sachsen werden rein rechnerisch seit 2011 täglich mindestens fünf rechtsextreme Straftaten begangen, wie aus einer Antwort des Innenministeriums auf eine Anfrage der Linken im Sächsischen Landtag hervorgeht – mit stark steigender Tendenz.
Als Parteien sind in Chemnitz neben der NPD auch „Der dritte Weg“ und „Die Rechte“ präsent – letztere allerdings im Vorjahr laut Verfassungsschutzbericht ohne „öffentlich wirksame Aktivitäten“. Auch die NPD-Nachwuchsorganisation „Junge Nationaldemokraten“ (JN) ist vertreten.
Pro Chemnitz: Die rechtspopulistische Wählervereinigung um den Stadtrat Martin Kohlmann hält der Verfassungsschutz nicht für bedenklich. Im Prozess um die Rechtsterroristen der „Gruppe Freital“ vertrat Kohlmann einen der Angeklagten. Vor wenigen Tagen schloss die Vereinigung der Strafverteidiger Sachsen und Sachsen-Anhalt den Rechtsanwalt aus ihren Reihen aus, weil dieser den Haftbefehl gegen einen der verdächtigen Asylbewerber veröffentlicht habe.
Revolution Chemnitz: Die Terrorgruppe soll sich im September zusammengeschlossen haben, um an Tag der Deutschen Einheit ein Zeichen zu setzen. Dazu gekommen ist es nicht – die Männer aus der örtlichen Hooligan- und Naziszene flogen kurz zuvor auf.
Die Gruppe „Nationale Sozialisten Chemnitz“, deren Ziel laut dem Oberverwaltungsgericht Bautzen die Überwindung der Demokratie war und die „Errichtung eines autoritären Systems in Anknüpfung an die Ideologie der Nationalsozialisten“ wurde 2014 vom sächsischen Innenminister Markus Ulbig (CDU) verboten. Als Folge hätten sich ehemalige Mitglieder bei den JN engagiert, andere hätten sich dem „Dritten Weg“ angeschlossen, beobachtet der Verfassungsschutz.
Das NSU-Terrortrio tauchte von 1998 bis 2000 in der sächsischen Stadt unter, es lebte in vier verschiedenen Wohnungen. Unterstützt wurden Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos von der lokalen Neonazi-Szene, die sie mit Unterkünften, Pässen und Waffen versorgte. Im Chemnitzer Untergrund radikalisierte sich das Trio weiter und übte seine Finanzierungsmethode: Mit Überfällen auf einen Edeka-Markt und sieben mal auf Banken in Chemnitz versorgte man sich mit Geld. dpa/rom