Die Trauer und schrecklichen Bilder begleiten Sarah O'Connor jeden Tag. Am Mittwoch aber war der Irakkrieg wieder so präsent wie damals im Januar 2005, als die Britin erfuhr, dass über Bagdad der Helikopter abgeschossen wurde, in dem ihr Bruder saß. Es war der Tag, „an dem unsere Familie starb“, sagt die blonde Frau unter Tränen. Der 38-jährige Bob O'Connor gehörte zu den 179 britischen Soldaten, die zwischen 2003 und 2009 im Irakkrieg getötet wurden.
Seitdem versuchten die Angehörigen verzweifelt zu erfahren, warum und wofür ihre Verwandten ihr Leben ließen. Sieben Jahre lang mussten sie auf Antworten warten. Am Mittwoch veröffentlichte die sogenannte Chilcot-Kommission ihren Bericht, für den sie etliche Zeugen befragt und geheime Dokumente ausgewertet hat. Das Urteil ist für den damaligen Premierminister Tony Blair vernichtend. Großbritanniens Entscheidung, an der Seite der USA in den Irak einzumarschieren, sei voreilig getroffen worden, bevor „alle Möglichkeiten einer friedvollen Lösung ausgeschöpft“ wurden, sagte der Diplomat Sir John Chilcot bei der Vorstellung des Reports in London.
„Militärische Aktionen zur damaligen Zeit waren nicht die letzte Option.“ Man habe sich auf fehlerhafte Geheimdienst-Informationen verlassen, dabei hätten die Angaben, der Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen, infrage gestellt werden müssen. Der Leiter der Kommission kritisierte, Blair habe das nicht getan. Mehr noch, der Ex-Premier habe sie als beweiskräftiger dargestellt, als das gerechtfertigt gewesen sei. Dabei sei 2003 vom damaligen Machthaber Saddam Hussein „keine unmittelbare Gefahr“ ausgegangen.
Die Untersuchung bemängelt zudem die Durchführung des Einsatzes, die Ausrüstung der Truppen und die Planlosigkeit für die Zeit danach. „Trotz ausdrücklicher Warnungen wurden die Folgen der Invasion unterschätzt.“ Die Vorbereitungen für einen Irak nach Saddam seien „völlig unzureichend“ gewesen, las Kommissionschef Chilcot aus dem Bericht vor. Der umfasst 2,6 Millionen Wörter. Um das Ausmaß der Untersuchung zu betonen, verglichen Medien den Report mit der Bibel, die rund 775 000 Wörter hat.
Es war jedoch ein Satz aus Blairs Korrespondenz mit dem damaligen US-Präsidenten George W. Bush, der für die größte Empörung auf der Insel sorgte. Schon im Juli 2002, also Monate vor der Invasion im März 2003, versprach der Brite dem US-Kollegen: „Ich bin mit dir, was auch geschehen möge.“ „Blairs privater Krieg“, titelte das Boulevardblatt „Daily Mail“.
Zwar sah sich Blair durch den jüngsten Bericht zunächst entlastet. Doch während einer mehr als zweistündigen Pressekonferenz präsentierte er sich dann sichtlich angeschlagen. „Ich drücke mehr Kummer, Bedauern und Entschuldigung aus, als Sie jemals wissen oder glauben können“, sagte er.
Der frühere Labour-Politiker wurde einst als politischer Star gefeiert, seit dem Irakkrieg gilt er auf der Insel als „persona non grata“. Mit brüchiger Stimme und Tränen in den Augen übernahm er die „volle Verantwortung“ für die Fehler. Die Entscheidung für den Krieg sei die „quälendste“ seiner Amtszeit als Premier gewesen. Doch die Soldaten seien nicht umsonst gestorben. „Die Welt ist ein besserer Ort ohne Saddam Hussein“, so Blair.
Tatsächlich war die Irak-Invasion von Beginn an heftig umstritten, auch weil ihr ein klares UN-Sicherheitsratsmandat fehlte. Millionen Demonstranten auf der ganzen Welt gingen damals gegen den Krieg auf die Straße. Angebliche Massenvernichtungswaffen wurden nie gefunden, und bereits während seiner Amtszeit verspottete die Presse Blair wegen seiner angeblich blinden Gefolgschaft als „Bushs Pudel“.
Sarah O'Connor, die Schwester des getöteten Soldaten, ging gestern deutlich härter mit dem früheren Labour-Politiker ins Gericht: „Tony Blair ist der schlimmste Terrorist der Welt“, sagte sie.
Derweil versammelten sich rund um Westminster zahlreiche Demonstranten, die Blair-Masken vor dem Gesicht trugen und ihre Hände in künstliches Blut getaucht hatten. Sie forderten mit wütenden Rufen und Transparenten die strafrechtliche Verfolgung des „Kriegsverbrechers Blair“. Der Untersuchungsbericht hat jedoch keine juristischen Folgen.