
Auf der Vorderseite des Blattes hat Madeleine Darlens ihren Stundenplan notiert. Französisch hatte sie am Dienstag in der letzten Stunde. Die wäre um 17 Uhr zu Ende gewesen. Auf die Rückseite hat die Kleine mit ihren Buntstiften ein hübsches Muster gezeichnet. Es umrahmt ihre guten Wünsche zum Jahreswechsel. „Bonne année 2010“ steht da in sauberer Kinderschrift: ein gutes, ein frohes, ein glückliches Jahr 2010. Die Zeichnung, mit der sich die Zweitklässlerin so viel Mühe gegeben hat, liegt auf dem riesigen Schutthaufen, der einmal ihre Schule war. Tausende Blätter sind zwischen den Steinbrocken verstreut, Bücher, Zeichnungen.
Zerbröselt wie Zwieback
Die wuchtigen Steinwände des Klassenzimmers waren in kräftigem Grün bemalt. Sie sind an jenem 12. Januar vor zehn Jahren, als das Jahrhundert-Erdbeben den Karibikstaat erschütterte, innerhalb von 37 Sekunden zerbröselt wie Zwieback. Mindestens 220 000 Menschen kamen bei dem Beben der Stärke 7,2 ums Leben, fast zweieinhalb Millionen wurden obdachlos. Es war eine der größten humanitären Katastrophen des 21. Jahrhunderts. In einem Staat, der schon vor dem Beben in einer ökologischen, sozialen und politischen Dauermisere steckte.
Die massive Betontreppe, die hinaufführte in den zweiten Stock des Schulgebäudes, ragte in den Himmel und deutete hinauf auf die Spitze des Trümmerbergs. Auf dem versuchten eine Handvoll Männer mit Spitzhacken und bloßen Händen die Steinbrocken abzutragen. Es sind die Bauern aus der Umgebung, die Väter der Kinder. Sie suchten immer weiter, längst nicht mehr nach Überlebenden. Sie suchten nach den 130 Mädchen und Buben, die noch unter dem Trümmerberg begraben waren. 153 Kinder, vier Lehrer und fünf Schwestern des haitianischen Ordens „Les petites soeurs de Sainte Therese de l?enfant Jesus“ hatten sie schon gefunden.
Die Schwestern betreiben die Volksschule „Saint François de Sales“ in Carrefour, die einzige weit und breit. 1000 Kinder zwischen sechs und 17 Jahren wurden hier unterrichtet – die einen am Vormittag, die anderen am Nachmittag. Gut 350 Kinder hatten Unterricht an dem Dienstag um 16.53 Uhr, an dem die Erde bebte in Haiti. Die meisten von ihnen haben den Nachmittag nicht überlebt.
Spenden aus Deutschland
Inzwischen ist die Schule wieder aufgebaut. Mit Spendengeldern der Kindernothilfe aus Deutschland und mit Unterstützung von chilenischen Architekten. Hier, in diese Schule, ist das Leben zurückgekehrt, hier lernen die Kinder längst wieder Französisch und Englisch, Mathe und Chemie. Eine Ausnahme in dem geschundenen Land.
In der überfüllten Hauptstadt Port-au-Prince mit ihren gut drei Millionen Einwohnern sieht es fast wieder so aus wie am Vorabend der Naturkatastrophe. Es ist laut, dreckig, chaotisch, gefährlich – und noch voller, als es damals schon war. Der Müll türmt sich an den Straßenrändern oder verbrennt in alten Ölfässern, die Menschen sitzen auf den Bürgersteigen und verkaufen ein paar Mangos, Bananen und abgepackte Spaghetti. Die Zeltstädte, in denen die Erdbebenopfer jahrelang lebten, sind verschwunden. Dafür sind die Slums gewachsen; die Zahl der wackeligen Wellblechhütten, die sich die Hügel hinaufziehen; die schiefen Verschläge aus Holz und Plastikplanen, in denen die Menschen in der Nähe des Hafens untergeschlüpft sind.
Auch Françoise Renfort hat vor zehn Jahren ihr gesamtes Hab und Gut verloren. Die Erdstöße haben die damals 33-Jährige an ihrem Marktstand in Port-au-Prince erwischt. Das eiserne Gerüst mit dem Wellblechdach kollabierte. Renfort konnte sich retten – im Gegensatz zu vielen ihrer Arbeitskollegen, die zögerten, ihre Waren zurückzulassen. Als Renfort Stunden später zu Fuß durch Staubwolken und Schuttberge an der Küste in ihrem Viertel Cité Soleil ankam, lag ihre Hütte in Trümmern – aber wenigstens waren ihre beiden Kinder und ihr Mann am Leben. Die dramatischen Stunden, aber auch die frenetischen Wochen danach haben sich tief in ihr Gedächtnis gegraben.
Schönheitschirurg aus Los Angeles
Da waren die vielen Journalisten und die Hilfsorganisationen aus aller Welt, die plötzlich in ihrem sumpfigen Slum am Meer auftauchten, Fragen stellten, Zelte brachten, Fotos knipsten und Hilfe versprachen. Dann kamen die Missionare aus den USA, die durch die Kliniken zogen und den Verletzten Heilung durch Handauflegung versprachen. Oder „Doc Hollywood“, der Schönheitschirurg aus Los Angeles, der mit seinem Fernsehteam ins „Hospital Espoir“ einfiel, um für die amerikanische Daily-Soap „The Doctors“ so zu tun, als würde er helfen in Haiti.
Und schließlich kamen die UN-Blauhelme, die den kriminellen Gangs in Cité Soleil rasch Einhalt geboten – in deren Schusswechseln aber auch manch Unbeteiligter eine Kugel abbekam. Und deren Soldaten manches haitianische Mädchen schwängerten – und die dann auch noch die Cholera einschleppten. Die internationale Staatengemeinschaft versprach Millionen für den Wiederaufbau, Stars wie Sean Penn und Politiker wie der Ex-US-Präsident Bill Clinton gaben sich in Port-au-Prince die Klinke in die Hand. Es fühlte sich vielversprechend an. Wie eine Chance für das Armenhaus der westlichen Hemisphäre.
Viele Bauprojekte scheiterten
Auf die Frage nach ihrer Bilanz zehn Jahre später zögert Françoise Renfort lange. „Wir hatten uns mehr erhofft“, sagt die schlanke Frau mit dem Kurzhaarschnitt dann. Viele Helfer waren nur kurze Zeit da, verteilten ein paar Säcke Reis, ließen die Bewohner Zettel unterschreiben und verschwanden wieder. Aber in Cité Soleil wurden auch Brücken und Abwasserkanäle gebaut, Brunnen gebohrt, Straßen geteert. „Ich will nicht undankbar sein. Ich konnte mir dieses Haus aus Blöcken und Zement bauen“, sagt Renfort und zeigt stolz auf ihre noch unverputzte und nur halb geflieste Veranda. Selbst gebaut. Die Hausbauprojekte der internationalen Gemeinschaft scheiterten größtenteils, weil es auf Haiti kein verlässliches Grundregister gibt. Das Risiko von Rechtsstreit oder späteren Vertreibungen wollte keine Hilfsorganisation eingehen. Der Staat ließ die Chance zu einer Bodenreform verstreichen.
Viele Chancen wurden so vergeben. „Weil wir keinen Plan für unser Land haben und letztlich immer Partikularinteressen siegen“, sagt der Unternehmer und Politikberater Paul Gustave Magloire. Zehn Jahre später sind die UN-Soldaten abgezogen und die Gangs nach Cité Soleil zurückgekehrt. Strom gibt es kaum noch, weil der Staat seine Schulden beim privaten Betreiber nicht begleicht. Inflation und Währungsverfall haben die von Importen abhängige Wirtschaft in die Krise gestürzt. Hilfsorganisationen befürchten eine Hungersnot.
Der Präsident braucht eine bewaffnete Eskorte
Der mit Unterstützung der USA zum Wahlsieger ausgerufene Präsident Jovenel Moise ist derart unbeliebt, dass er sich nur mit schwer bewaffneter Polizei-Eskorte in die Öffentlichkeit wagt. Seit dem Sommer legen gewaltsame Proteste das Land lahm, nachdem der Rechnungshof bekannt gab, dass Millionen Hilfsgelder aus Venezuela von Politikern und Unternehmern veruntreut wurden – auch Firmen von Moise tauchen in dem Bericht auf. Selbst sinnvoll eingesetzte Hilfsgelder sind verpufft, andere in den Taschen korrupter Politiker gelandet. Mangels Wartung funktionieren die von den UN installierten Solarlaternen nicht mehr; damals geteerte Straßen sind längst wieder Schlaglochpisten.
Das Auswärtige Amt rät von Reisen nach Haiti derzeit dringend ab. Die Sicherheitslage hat sich seit Anfang September erheblich verschärft, heißt es auf der Homepage lapidar. In Haiti brennt es lichterloh – in keinem lateinamerikanischen Land ist die Lage so katastrophal wie in dem Karibikstaat und hat gleichzeitig so wenig internationale Aufmerksamkeit. „Das Organisieren des täglichen Überlebens ist die eigentliche Herausforderung“, sagt Marie Caridade Valcourt, die Koordinatorin der Kindernothilfe in Port-au-Prince. „An etwas zu essen zu kommen, irgendwoher Galonen mit Wasser zu beschaffen, mit der ständigen Angst fertig zu werden. Da die ganze Stadt voller Barrikaden ist, selbst Fußgänger beschossen und angegriffen werden, ist es extrem schwer, überhaupt von einem Ort zum anderen zu gelangen.“
Das verheerende Erdbeben vor zehn Jahren hat Teile der Hauptstadt zerstört und einige Städte in der Nachbarschaft. Jetzt aber leidet das gesamte Land mit seinen mehr als elf Millionen Menschen – obwohl der Karibikstaat nach der Katastrophe von Hilfsorganisationen aus aller Welt überflutet worden ist.
So kann es nicht weitergehen
Wer hat versagt? „Alle“, antwortet der Soziologe Auguste D?Meza und skizziert dann das Schema eines Beutestaates: „Alle Politiker wollen sich nur bereichern und haben darüber jegliche Autorität verloren. Die internationale Gemeinschaft hat staatliche Aufgaben übernommen, aber viele internationale Funktionäre haben sich ebenfalls bereichert. Jetzt, wo die Blauhelme weg sind, kann der Staat nicht einmal mehr die Sicherheit garantieren. Wir stecken in einer Legitimitätskrise.“ Und die sei auch nicht mit Wahlen oder einem Wechsel an der Staatsspitze zu beheben, sagt D?Meza.
Einen Systemwechsel fordern inzwischen nicht nur Intellektuelle und Oppositionelle, auch Renfort sagt, so könne es nicht weitergehen. „Unsere Kinder gehen hungrig zur Schule, die Wirtschaft ist wegen der Sicherheitslage lahmgelegt, und wir sind wegen der Gewalt mit den Nerven am Ende“, sagt sie. Aber Renfort legt die Hände nicht in den Schoß.
In einem Land, in dem über zwei Drittel der Bevölkerung weniger als zwei US-Dollar am Tag zum Leben haben, zählt sie sich zur Mittelschicht von Cité Soleil – sie hat einen Schulabschluss und ihr Mann als Hilfspolizist einen festen Job. Das erlaubt ihr, ein klein wenig weiter zu denken als nur daran, wie sie die nächste Mahlzeit auf den Teller bringt. Ihre Tochter macht eine Ausbildung zur Krankenschwester, ihr Sohn steht kurz vor dem Abitur. Sie gründete nach dem Beben mit Nachbarn und Exilhaitianern einen Bürgerverein, um Hilfsgelder sinnvoll zu kanalisieren.
Ein Lichtblick in einem Viertel, in dem die Menschen ihre Notdurft in Eimern verrichten und diese anschließend in offene Abwasserkanäle kippen. In denen tonnenweise Müll schwimmt, den die Regengüsse aus der reichen Oberstadt bei den Ärmsten ablagern. Zehn Jahre nach dem Beben steht Haiti erst am Anfang eines Neubeginns.