Ein Gespräch mit Dr. med. Joost Butenop, Experte für Humanitäre Zusammenarbeit und Gesundheit in Krisensituationen vom Missionsärztlichen Institut Würzburg. Er war selbst als Nothelfer nach dem Erdbeben in Haiti und ist immer noch regelmäßig vor Ort.
Joost Butenop: Mittlerweile ist der ganze Schutt weggeräumt, ein gewisser Wiederaufbau ist überall deutlich erkennbar. Auch viele Hilfsorganisationen haben Haiti inzwischen wieder verlassen. Das Geleistete bleibt aber Stückwerk.
Butenop: Das liegt vor allem daran, dass es seitens des Staates bisher relativ wenig Initiativen in die Richtung eines umfangreichen Wiederaufbauplans gab. Was wir schon sehen, ist, dass viele Gesundheitseinrichtungen und Schulen wieder aufgebaut wurden, das wurde aber alles nur von Hilfsorganisationen gemacht, nicht von der Regierung. Gerade in den Bereichen Gesundheit und Bildung hat die Regierung schon vor dem Erdbeben wenig investiert, das hat sich nach dem Erdbeben nicht geändert. Im Kleinen sind viele Dinge in Gang gekommen, im Großen weniger.
Butenop: Da ist unterschiedlich. Zum einen gab es viele private Spenden an Hilfsorganisationen. Und es gab Gelder, die auf den sogenannten Geberkonferenzen verteilt wurden, also Geld von ausländischen Regierungen, auch der deutschen. Dieses Geld wird aber oft nur für konkrete Wiederaufbaupläne ausgeschüttet. Zu diesen konkreten Plänen kam es in Haiti aber nie, so dass viele Länder ihre Gelder auch wieder zurückgezogen haben. Schlimmer noch, auch die haitianische Regierung hat im vergangenen Jahr beschlossen, diese Gelder nicht mehr haben zu wollen, um nicht am Tropf der internationalen Gemeinschaft zu hängen.
Butenop: Die schlimmste Spätfolge ist die am wenigsten messbare: das psychische Trauma. Man sieht den Menschen in Haiti noch heute den Schock an. Sobald es mal wieder bebt – was aufgrund der geografischen Lage alle paar Monate vorkommt, wenn auch nicht so stark wie 2010 – dann lähmt die Angst die Bevölkerung gleich wieder. Es gibt auch gesundheitliche Spätfolgen wie die Cholera, die aufgrund der schlechten Trinkwassersituation bis heute in Haiti grassiert. Und es gibt viele Menschen, die Arme oder Beine verloren haben und dadurch von jetzt auf gleich in die Armut gerutscht sind. Für diese Menschen gibt es kein soziales Auffangnetz. Bereits vor der Katastrophe lag in Haiti schon so viel im Argen, dass die Bevölkerung jetzt umso mehr ein „Überleben der Fittesten“ durchmacht. Die Rahmenbedingungen im Lande sind harsch und erlauben wenig Entwicklungsspielraum für Einzelne und Gruppen.
Butenop: Es gibt viele Aspekte. Zum Beispiel wird die Analphabetenrate unter den Erwachsenen auf 50 Prozent geschätzt. Nur 20 Prozent der Bevölkerung haben feste Arbeitsverträge. Da kann sich wenig weiterentwickeln. Die Haitianer sprechen immer von „organizing things“, davon, Dinge zu organisieren – genug Essen und Geld für den nächsten Tag. Da kann niemand eine Zukunft planen, es geht nichts voran, seit Generationen. In 200 Jahren Unabhängigkeit gab es in Haiti nie ein System, das sich um die Menschen gekümmert hat. Die meisten Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen sind von Hilfsorganisationen aufgebaut worden. Kurz vor dem Erdbeben wurde ein Bericht veröffentlicht, der zeigte, dass in Haiti die weltweit zweitgrößte Menge an internationalen Hilfsorganisationen arbeiten – nur noch getoppt von Indien, was zigmal größer ist. Haiti hing schon vor dem Erdbeben am Tropf der internationalen Unterstützer.