Das Chaos eines ungeordneten Brexits Ende März scheint kaum noch abwendbar. Hat die EU bei den Verhandlungen vielleicht auch Fehler gemacht? Wie stehen Großbritannien und die EU künftig da? Wir sprachen darüber mit dem langjährigen EU-Kommissar Günter Verheugen.
Frage: Sehen Sie noch eine Möglichkeit, einen harten Brexit zu vermeiden?
Günter Verheugen: Ich sehe keine Möglichkeit mehr – zumindest nicht auf der Seite der EU. Die 27 werden ihre Position nicht mehr ändern, weil es die einzige ist, die sie gemeinsam haben können. Das Unheil nimmt seinen Lauf.
Könnte die EU noch weiter auf Großbritannien zugehen?
Verheugen: In welchem Punkt denn? Vielleicht werden die Briten mehr Zeit fordern. Aber diejenigen haben doch Recht, die sagen: Was nutzt eine Verschiebung, wenn sich niemand bewegt? Die Rede von Premierministerin Theresa May zum sogenannten Plan „B“ hat das ja gezeigt. Sie hat ihre alten Positionen wiederholt. Und das tut die EU auch.
Der Ausgang des Brexit-Referendums wird von vielen als großer Sieg der Populisten mit eigentlich falschen Parolen über die EU bezeichnet. Ist das so?
Verheugen: Das greift wohl zu ist kurz. Das Referendum war die Folge jahrzehntelanger Konflikte innerhalb der britischen Konservativen. Ein Großteil der Forderungen, die der damalige Premierminister David Cameron an Brüssel gestellt hatte, waren sehr vernünftig. Denn tatsächlich ist die Balance zwischen den Institutionen der EU und den Nationalstaaten aus dem Gleichgewicht geraten. Mit der Feststellung, dass das Subsidiaritätsprinzip nicht ernstgenommen wird, hatte er völlig Recht. Und dass es erhebliche Probleme mit Transparenz und Effizienz der EU gibt, stimmt auch. Allerdings haben diese richtigen Ansätze im Brexit-Wahlkampf keine Rolle mehr gespielt, weil es da dann nur noch um Zuwanderung und den angeblichen Superstaat ging, der Großbritannien unterdrückt.
Die EU hat – zumindest unmittelbar nach dem Schock – nicht nur nach London gesehen, sondern auch nach innen…
Verheugen: Ja, es wurde auf Abschreckung gesetzt. Das hat die Bundeskanzlerin auch deutlich gemacht, als sie sinngemäß sagte: Wir müssen das so machen, dass es für denjenigen, der gehen will, nicht lohnt. Es ist also eine von Angst getrieben Strategie gewesen.
Alle reden vom großen Chaos, das am Tag nach dem Brexit droht. Aber das sind ja Dinge, die man in den Griff bekommen wird. Worin besteht der eigentliche langfristige Schaden durch den Brexit?
Verheugen: Sie haben Recht. Mit den ökonomischen Folgen kann man umgehen, so bitter sie auch sein werden. Das tiefere politische Problem besteht in der Gefahr, dass wir uns als EU bald in einer Lage wiederfinden könnten, in der wir auf uns alleine gestellt sind. Oder wo wir feststellen müssen, dass wir mit unseren Vorstellungen von der Lösung der globalen Herausforderungen keine Partner mehr finden. Der Verlust eines so großen und wichtigen Landes wie Großbritanniens verringert das internationale Gewicht der EU massiv.
Bei einer größeren EU denken Sie ja – bei allem Respekt vor diesen kleineren Staaten - nicht an Albanien oder Bosnien. Wer kommt denn als Partner infrage, um so ein starkes Europa zu schaffen?
Verheugen: Die EU steht allen offen, die die Bedingungen erfüllen wollen und können. Das ist klar. Ich glaube aber nicht an ein Integrationsmodell, bei dem die EU irgendwann von Lissabon bis Wladiwostok reicht. Wichtig wären kooperative Strukturen zwischen Ländern oder Regionen – ich denke beispielsweise an eine Partnerschaft zwischen der EU und der Eurasischen Union, die uns außerdem Zentralasien öffnen würde. Gesamteuropäische Kooperation auf allen Gebieten ist keine Träumerei. Sie wurde in Paris 1990 auf die Tagesordnung gesetzt, aber bisher nicht eingelöst. Die EU sollte hier zum Motor werden.
Hat in diesem Modell ein Vereinigtes Königreich, das wieder das alte Empire sein will, einen Platz?
Verheugen: Diejenigen, die den Briten etwas von einem neuen Empire erzählen, sind entweder Zyniker oder Phantasten. Künftig könnte Großbritannien in bestimmten Fragen sehr allein sein. Oder es könnte zu einem noch abhängigeren Vorpostens der USA werden. Nichts davon ist aus EU-Sicht wünschenswert. Es liegt in unserem Interesse, dass Großbritannien und die EU eine engstmögliche Partnerschaft entwickeln.