In den offiziellen EU-Kalendern ist für den 16. April kein besonderer Termin vermerkt. Hinter den Kulissen aber wartet die Spitze der Gemeinschaft mit Bangen und Hoffen darauf, dass dieser Tag gutgeht. 55 Millionen Türken stimmen über eine Staatsreform ab, die aus Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan einen Alleinherrscher machen könnte – mit nahezu unbeschränkten Machtbefugnissen. Und möglicherweise drastischen Folgen für Europa.
„Wenn das Referendum im Sinne Erdogans gelingt, wird die Gewaltenteilung in dem Land aufgehoben“, sagte der Europa-Abgeordnete und außenpolitische Experte der liberalen Parlamentsfraktion, Alexander Graf Lambsdorff, dieser Redaktion. „Was in der EU als Grundwert gilt, wäre dann in der Türkei nicht mehr gegeben. Das ist der Punkt, an dem die EU die Beitrittsverhandlungen beenden müsste.“ Stattdessen könne es eine wie auch immer geartete „pragmatische Zusammenarbeit“ geben. Deutschland und Frankreich sollten mit einem klaren Bekenntnis zum Stopp der Aufnahmegespräche vorangehen und „Österreich nicht länger im Regen stehenlassen“.
Tatsächlich dürften die eventuellen Glückwunsch-Schreiben aus der EU-Hauptstadt am Montag in diesem Fall zurückhaltend ausfallen. Die Angst vor einem Machthaber in Ankara, der die politische Opposition kaum noch fürchten muss und mit einem Parlament regieren kann, dem er seine Wünsche quasi vorsetzt, ist groß. „Die EU muss mit einer destabilisierten Türkei umgehen lernen“, meint auch Marc Pierini von der Vordenker-Schmiede Carnegie Europe in Brüssel. Er hält allerdings die Folgen für überschaubar: „Wenn das Volk mit Ja stimmt, kommen wir von einem de facto autoritären System zu einem offiziell autoritären System mit einem Präsidenten, der absolute Macht hat und keinen Gegenspieler.“
Doch die Furcht, dass Erdogan sich von Europa abwenden und neue Verbündete im Osten und Asien suchen könnte, halten die EU-Außenpolitiker für eher unwahrscheinlich. „Er wird den Flüchtlingsdeal nicht aufkündigen“, wagte Lambsdorff eine Prognose. „Die türkische Wirtschaft steht vor dem Kollaps, die Inflation liegt bei zwölf Prozent, die Tourismusbranche steht vor dem schlechtesten Sommer aller Zeiten. Die Türkei braucht den Zugang zum europäischen Markt“, um dringend notwendige Investitionen ins Land zu holen.
Doch genau dieser Schritt würde schwer, sollte der alte und neue Präsident, der ohnehin bis 2019 gewählt ist, den Rauswurf seines Landes aus den Beitrittsverhandlungen riskieren. Die künftige Erdogan-Türkei wäre schwer beschädigt, weil ihr vor aller Welt sozusagen amtlich mit EU-Stempel bestätigt würde, dass sie ein marodes und vor allem autokratisch geführtes Land ist. Investoren mögen solche unsicheren Kantonisten nicht. Dies belegen Zahlen.
Das Geschäft mit Übernahmen und Fusionen zwischen der Türkei und der EU lag auf dem bisherigen Höhepunkt 2007 bei rund 37 Milliarden Euro. Drei Jahre zuvor hatte Erdogan in Berlin sein Land als „Bestandteil der europäischen Wertegemeinschaft“ bezeichnet. Seither geht es bergab. Den größten Einbruch auf nur noch zwei Milliarden Euro gab es im Vorjahr, als die Regierung in Ankara nach dem gescheiterten Militärputsch eine regelrechte Säuberungswelle startete. „Erdogan braucht die EU“, heißt es in Brüssel – wenn er gewinnt und erst recht, wenn er verliert. Aber diese Aussage klingt zugegebenermaßen ein wenig so, als wolle man das türkische Volk beschwören, diesem Präsidenten sein Schicksal nicht in die Hand zu geben. Foto: Daniel Peter