Ein strahlendes Vorbild für junge arabische Demokratien abzugeben, das war das Ziel der Tunesier nach der Befreiung von Langzeitherrscher Zine el Abidine Ben Ali. Kurz nach dem zweiten Jahrestag der Revolution scheint dieser Plan allerdings gefährdeter denn je. Die kaltblütige Ermordung des scharfzüngigen Oppositionspolitikers Chokri Belaid lässt die Spannungen zwischen Anhängern und Gegnern der von Islamisten angeführten Regierung eskalieren.
Das bei Urlaubern so beliebte Land droht zu einem weiteren Unruheherd in Nordafrika zu werden. Am Donnerstag gab es erneut gewaltsame Proteste. Zur Beerdigung von Belaid an diesem Freitag ist ein Generalstreik geplant.
Schuld an der politischen Krise ist nach Meinung des liberalen Bevölkerungsteils vor allem die islamistische Ennahda-Partei um Rachid Ghannouchi. Sie hatte nach ihrem Sieg bei den ersten freien Wahlen im Herbst 2011 eine Koalitionsregierung mit zwei Mitte-Links-Parteien gebildet. Im Laufe der Zeit mehrten sich aber die Zweifel daran, dass die Ennahda wirklich eine moderne Partei nach dem Vorbild der türkischen AKP ist, wie sie sich stets nach außen hin dargestellt hatte.
Ghannouchi spiele ein falsches Spiel und lasse den Extremisten im eigenen Lager freien Lauf, meinen Kritiker wie der in Frankreich lebende Autor Abdelwahab Meddeb. Sie verweisen auf die zahlreichen Angriffe und Einschüchterungsversuche gegen Regierungsgegner, die es bereits vor der Tötung Belaids durch Unbekannte gab. Künstler, Menschenrechtler und Medienleute klagen schon lange. Auf die Ausstrahlung des angeblich gotteslästerlichen Animationsfilms „Persepolis“ reagierten Extremisten beispielsweise im vergangenen Jahr mit brutalen Angriffen auf Gebäude des Privatsenders Nessma TV und den Wohnsitz des TV-Kanal-Chefs. Viele Touristen und auch Investoren machen wegen solcher Ereignisse mittlerweile einen Bogen um das einst so westlich wirkende Urlauberland am Mittelmeer.
Ennahda-Führer Ghannouchi sieht dies als Beweis dafür, dass der Mord an dem Regierungskritiker Belaid keineswegs im Interesse der Regierung gewesen sein könne. Hinter dem Attentat steckten Gegner der Revolution, sagte er in einem TV-Interview. „Diejenigen, die nicht wollen, dass sich das Land weiterentwickelt und in Richtung demokratischer Wahlen geht.“
Zu der von seinem Parteifreund Hamadi Jebali vorgeschlagenen Bildung einer neuen Regierung mit parteilosen Experten äußerte sich Ghannouchi zunächst nicht. Andere einflussreiche Ennahda-Politiker hatten den amtierenden Ministerpräsidenten Jebali am Donnerstag öffentlich bloßgestellt und behauptet, der Vorschlag sei nicht abgesprochen und deswegen hinfällig. Sie wollen sich von den Demonstranten nicht erpressen lassen.
Ausländische politische Beobachter sehen die Lage mittlerweile mit großer Besorgnis. „Die sogenannte regierende Troika (. . .) scheint paralysiert und überrannt von den Ereignissen“, kommentierte Hardy Ostry von der Konrad-Adenauer-Stiftung am Donnerstag in Tunis. Der politische Transformationsprozess, der mit den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung im Jahr 2011 begonnen habe, sei seit Oktober vergangenen Jahres kaum mehr existent.
Die Partei Ennahda
Die Wahl im Oktober 2011 brachte in Tunesien die gemäßigte islamistische Ennahda (Partei der Wiedergeburt, Renaissance) an die Macht. Ennahda-Ministerpräsident Hamadi Jebali war mit dem Ziel angetreten, die Wirtschaft des Landes wieder auf Wachstumskurs zu bringen. Die unter dem Anfang 2011 gestürzten Präsidenten Zine el Abidine Ben Ali verbotene Bewegung nennt die türkische Regierungspartei AKP als ihr Vorbild. Rachid Ghannouchi als Führer der Ennahda bekennt sich öffentlich zum Dialog mit anderen Parteien und versucht, den Einfluss extremistischer Strömungen innerhalb seiner Organisation zu begrenzen. Text: dpa