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Getrennte Welten
Politik: Seit jetzt 67 Jahren sind Nord- und Südkorea geteilt, eine Wiedervereinigung scheint unmöglich. Im Süden machen sich Wissenschaftler Gedanken darüber, wie eine Trennung überwunden werden kann. Dazu studieren sie die Geschichte Deutschlands.
In weiter Ferne so nah: Der Südkoreaner Kim Byong-jo, 75, und seine Frau knien an der Grenzanlage zu Nordkorea. Seit 67 Jahren sind die beiden Staaten getrennt.
Foto: Reuters | In weiter Ferne so nah: Der Südkoreaner Kim Byong-jo, 75, und seine Frau knien an der Grenzanlage zu Nordkorea. Seit 67 Jahren sind die beiden Staaten getrennt.
Von unserem Mitarbeiter Bernhard Bartsch
 |  aktualisiert: 24.05.2022 09:42 Uhr

Neulich hat Kim Seung-chul wieder über Deutschland gesprochen. In seiner Nachrichtensendung vom 3. Oktober erzählte er, wie es dazu kam, dass aus einem sozialistischen und einem kapitalistischen System ein gemeinsamer Staat wurde. Kim Seung-chul sprach gut über Deutschland, ein Land, in dem er noch nie war, aber von dem er wünscht, dass es sich seine Landsleute zum Vorbild nehmen. Der Koreaner sitzt in einer kleinen Mietswohnung in Seoul, von der aus er seit fünf Jahren den Kurzwellensender „Reformradio Nordkorea“ betreibt. Drei Kollegen bereiten neue Beiträge vor: Nachrichten, Reportagen, Bildungsprogramme. „Die Nordkoreaner brennen auf Informationen von außen“, sagt der Mittfünfziger. „Nordkorea versucht, sein Volk vom Rest der Welt zu isolieren, aber der eiserne Vorhang ist nicht mehr so dicht wie früher einmal.“

Kims Radiostation ist einer von vier spendenfinanzierten Feindsendern, die Programme über die innerkoreanische Grenze funken, welche die Halbinsel seit 67 Jahren teilt. Zwar stellen nordkoreanische Radiofabriken ihre Geräte so ein, dass sie nur den staatlichen Propagandasender empfangen können. Doch viele Nordkoreaner manipulieren ihre Empfänger heimlich oder benutzen eines der kleinen Transistorradios, welche südkoreanische Aktivisten seit Jahren mit Heißluftballons über dem Norden abwerfen. „Überläufer, denen in den letzten Jahren die Flucht in den Süden gelungen ist, erzählen, dass inzwischen fast jede zweite Familie heimlich südkoreanische Programme hört“, erzählt Kim. Dass immer mehr Nordkoreaner mittlerweile durchschauen, wie ihr Regime sie im Interesse des eigenen Machterhalts um Fortschritt und Wohlstand betrügt, wie ihr Regime sie um ihre Freiheit beraubt und viele Menschen zum Hungern zwingt, das stimmt Kim optimistisch, dass eine Wiedervereinigung der beiden Koreas womöglich gar nicht in so weiter Ferne ist, wie es erscheint.

Mit seinem Wunsch nach einer Wiedervereinigung ist Kim Seung-chul allerdings kein Durchschnittskoreaner. Zwar haben beide Koreas in ihrer Verfassung die Vereinigung der Halbinsel als Staatsziel festgeschrieben. Doch keine Seite arbeitet derzeit aktiv darauf hin. Im Norden, wo die Diktatur des Kim-Klans Anfang des Jahres in die dritte Generation gegangen ist, fürchten die Eliten, dass eine Öffnungspolitik ihr auf Propaganda und Staatsterror errichtetes System zum Einstürzen bringen könnte. Im Süden hat man dagegen Angst, dass eine Fusion mit dem verarmten Nachbarn den eigenen Wohlstand vernichten würde. „Derzeit sind die Menschen auf keiner Seite auf eine Wiedervereinigung psychologisch vorbereitet“, sagt Kim Tae-woo, Präsident von Südkoreas staatlichem Institut für Wiedervereinigung.

Dennoch ist man sich in Seoul bewusst, dass sich die Frage einer Wiedervereinigung schnell stellen könnte. Als im Dezember 2011 Diktator Kim Jong-il starb, da fürchteten viele internationale Beobachter um Nordkoreas Stabilität, und obwohl sein Sohn und Nachfolger Kim Jong-un seither seine Macht konsolidiert zu haben scheint, gilt das System Nordkoreas noch immer als höchst marode. Eine Wiedervereinigung könnte den Koreanern also genauso plötzlich vor die Füße fallen wie seinerzeit den Deutschen. „In dem Fall können wir von den Deutschen sicherlich viel lernen“, sagt Kim Tae-woo.

Von der Freien Universität Berlin haben sich die Koreaner 44 Bände mit Materialien zusammenstellen lassen, die im Ernstfall nützlich sein könnten. Darin geht es um Fragen wie die Währung, die Angleichung der Sozialsysteme oder die Zusammenführung von Verkehrssystemen. „Die Frage, wie es zu einer Vereinigung kommen könnte, ist nicht unser Thema“, sagt die Berliner Koreanistikprofessorin Eun-Jeung Lee. „Aber was passieren muss, wenn es so weit ist – dazu sind die deutschen Erfahrungen sehr relevant.“

In Kim Tae-woos Büro im Institut für Wiedervereinigung in Seoul ist die Trennung überwunden. Hinter seinem Schreibtisch hängt eine Karte der ungeteilten Halbinsel. Eine Straßenverbindung führt von der einen Hauptstadt in die andere, so, als könnte man sich in Seoul ins Auto setzen und vier Stunden später in Pjöngjang wieder aussteigen. Tatsächlich gibt es zwischen beiden Staaten allerdings sehr wenig Verkehr. Wenn die politische Großwetterlage es zulässt, treffen sich getrennte Familien alle paar Jahre an einem Grenzort. Darüber hinaus können sie nur über Mittelsmänner in China heimlich Kontakt haben. Die einzige echte Verbindung zwischen beiden Staaten ist die gemeinsame Industriezone Kaesong, in der nordkoreanische Arbeiter für südkoreanische Firmen arbeiten, ein Resultat der Sonnenscheinpolitik, mit der Südkoreas Präsident Kim Dae-jung und sein Nachfolger zwischen 1998 und 2008 eine Annäherung versuchten. Der gegenwärtige konservative Präsident Lee Myung-bak hat die Versöhnungsversuche allerdings ausgesetzt in der Hoffnung, den Norden damit zur Aufgabe seines Atomwaffenprogramms zwingen zu können. Gelungen ist es ihm nicht.

„Je nach politischem Lager gibt es unterschiedliche Ansichten, welche Lektionen wir Koreaner aus der deutschen Wiedervereinigung ziehen können“, sagt Kim Tae-woo. Die Konservativen, zu denen er sich selbst zählt, interpretieren die Ereignisse von 1989 als Sieg des wirtschaftlich starken und militärisch von den USA unterstützten Westens über den Osten. „Helmut Kohl hatte den Grundsatz, dass Westdeutschland nichts tun sollte, was die DDR-Regierung stützen würde“, sagt Kim. „Aussöhnung zwischen den Menschen wurde gefördert, aber nicht Aussöhnung zwischen den Regierungen.“ Dies sei genau das Gegenteil der koreanischen Sonnenscheinpolitik, bei der zunächst die Annäherung auf politischer Ebene im Vordergrund stand. Eine wichtige Voraussetzung für die deutsche Wiedervereinigung sei jedoch gewesen, dass es auf beiden Seiten in der Bevölkerung eine große Bereitschaft für ein Zusammenleben gegeben habe. „Damit eine Wiedervereinigung funktioniert, müssen beide Völker den Wunsch dazu haben“, glaubt Kim. Die Unterwanderung des Regimes, etwa durch Feindsender wie „Reformradio Nordkorea“, sei deshalb hilfreich, um den Menschen im Norden eine andere Sicht auf die Welt zu ermöglichen, als die Propaganda sie ihnen vorgaukelt.

Das liberale Lager, das aus der Bürgerrechtsbewegung und dem Protest gegen Südkoreas Militärherrschaft entstanden ist, sieht dies anders. Angesichts der politischen Situation sei es völlig unrealistisch, eine Annäherung zwischen den Völkern zu erwarten, wenn sich nicht zunächst die Regierungen aufeinander zubewegen, meint der südkoreanische Aktivist Kim Sang-hun. „Solange wir mit den nordkoreanischen Eliten im Gespräch sind, haben wir die Möglichkeit, in ihrer Denkweise etwas zu verändern, andernfalls schotten sie sich ab“, sagt er. Aus seiner Sicht ist die Wiedervereinigung auch nicht allein eine strategische und historische Frage, sondern vor allem eine humanitäre. „Die Situation im Norden ist verheerend, aber die Südkoreaner sehen die Nordkoreaner kaum noch als ihre Brüder und Schwestern“, klagt Kim Sang-hun. Einig sind sich beide Seiten, dass man im Fall der Fälle versuchen müsse, eine allzu schnelle Wiedervereinigung zu verhindern – auch dies eine Lektion aus Deutschland. „Unser Ziel wird sein, einen längeren Übergangszeitraum zu schaffen“, sagt etwa Kim Tae-woo vom Wiedervereinigungsministerium.

Radiomacher Kim Seung-chul hat allerdings Sorge, dass zu viel Vorsicht auf südkoreanischer Seite zum Stillstand führen kann. „Veränderung braucht Mut“, sagt er. Er weiß, wovon er spricht. Kim ist vor 18 Jahren selbst aus Nordkorea geflohen. „Ich wurde im Norden zum Ingenieur ausgebildet und in der Universität hatte ich Zugang zu japanischen Fachzeitschriften, die mir die Augen geöffnet haben, wie rückständig unser Land ist.“ Als er Anfang der Neunziger zu einem Arbeitsauftrag nach Russland geschickt wurde, floh er, schlug sich nach Moskau durch und suchte dort in der südkoreanischen Botschaft politisches Asyl. Unter den rund 20 000 nordkoreanischen Deserteuren, die heute im Süden leben, gehört er zu den wenigen mit einem südkoreanischen Ehepartner. Wiedervereinigung beginnt im Kleinen.

Wie es zur Teilung kam

Wie einst in Deutschland ist auch Koreas Trennung ein Produkt des Zweiten Weltkriegs. 1945 beschlossen die Siegermächte in Potsdam, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts von den Japanern kolonialisierte Halbinsel am 38. Breitengrad zu teilen. Im Norden übernahm die Sowjetunion die Kontrolle, im Süden die USA. Am 25. Juni 1950 startete die von Moskau installierte nordkoreanische Regierung des Revolutionsführers Kim Il Sung einen Angriff. Doch die USA konterten an der Spitze einer internationalen Allianz. Drei Jahre und schätzungsweise drei Millionen Tote später wurde ein Waffenstillstand geschlossen, der bis heute anhält. Beide Koreas haben die Wiedervereinigung als Ziel in ihre Verfassung geschrieben – keine der Seiten arbeitet derzeit allerdings aktiv auf eine Vereinigung hin.

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