Es war eines der größten Schiffsunglücke im Mittelmeer. In der Nacht vom 18. auf den 19. April 2015 kenterte das Boot etwa 130 Kilometer vor der libyschen Küste. Niemand weiß mit Sicherheit, wie viele Menschen damals genau ertranken. Den Zeugenaussagen der wenigen Überlebenden zufolge verloren damals etwa 800 Flüchtlinge auf dem Weg nach Italien ihr Leben. Unter ihnen Kinder und Frauen.
Vittorio Piscitelli ist der Mann, der sich um diese unbekannten Toten kümmern soll. Der Polizeipräfekt wurde 2013 von der italienischen Regierung zum außerordentlichen Kommissar für vermisste Personen ernannt. 35 000 Vermisste waren Ende des Jahres 2015 in Italien gemeldet, darunter etwa 20 000 Ausländer, die meisten Flüchtlinge. Anonyme Zahlen, hinter denen Menschenschicksale stecken, sind Piscitellis Alltag. Vielleicht waren es 600, 700, vielleicht aber auch 800 Menschen, die bei dem Unglück am 18. April starben. Auch Piscitelli weiß es nicht. Er sagt: „Wir versuchen, diesen Zahlen Namen zu geben.“
Exakt ein Jahr nach der Katastrophe versuchen Spezialisten der italienischen Marine deshalb, das in knapp 400 Metern Tiefe liegende Wrack zu bergen. Nach den Erkenntnissen der Ermittler war der überfüllte Kutter mit dem zur Rettung herbeigeeilten portugiesischen Frachter „King Jacob“ zusammen gestoßen. Weil sich die Menschen wohl rasch auf eine Seite bewegten, sank das Holzboot. Nur 28 Menschen aus Somalia, Eritrea, Gambia, Mali, Senegal und Bangladesch konnten gerettet werden. 169 Leichen wurden geborgen. Die restlichen Leichen, so wird vermutet, stecken auch ein Jahr nach der Katastrophe noch in dem 25 Meter langen Schiffsrumpf.
Wenn die See ruhig ist, sollen die Bergungsarbeiten an diesem Montag, dem Jahrestag des Unglücks beginnen. „Das ist nicht nur eine rechtliche, sondern vor allem eine menschliche und ethische Pflicht“, sagt Vittorio Piscitelli.
Die Bedingungen für die Bergungsteams sind angesichts des hohen Drucks in 400 Metern Tiefe und völliger Dunkelheit extrem schwierig. Geplant ist, ein großes stabiles Tuch unter dem Wrack zu befestigen und dieses dann zusammen mit dem Schiff vorsichtig an die Oberfläche zu befördern.
„Den Messungen der Marine zufolge könnten sich noch 400 Körper an Bord befinden“, sagt Piscitelli. Der Kommissar weiß, dass die Schätzungen übertroffen werden könnten. Beteiligt sind an der Bergung neben mehreren Marineschiffen, den Spezialtauchern der Marine auch zwei private Firmen. Etwa zwei Tage sind für die Operation auf hoher See veranschlagt. Ist das Wrack einmal gehoben, soll es in die Nato-Militärbasis von Melilli auf Sizilien transportiert werden. Zur Konservierung der Leichen wird das Wrack mit Planen bedeckt, unter die Stickstoff zur Kühlung gesprüht wird. Spezialisten der Feuerwehr sollen die Leichen dann aus dem Rumpf befreien und in Kühlzellen lagern. Anschließend beginnt die Identifizierung, an der Rechtsmediziner von 20 italienischen Universitäten beteiligt sein werden.
Die Identifizierung der Opfer ist schwierig, da meist nur wenige Hinweise auf die Herkunft der Opfer existieren und die Körper nach einem Jahr unter Wasser stark verändert sind. Italienische Rechtsmediziner haben bereits triste Erfahrung gesammelt, etwa nach dem Schiffbruch vor Lampedusa im Oktober 2013. 366 Flüchtlinge ertranken damals, knapp 200 konnten bis heute dank Hinweisen von Verwandten, Fotografien oder Gentests identifiziert werden. „Diese Arbeit machen wir nicht nur für die Toten, sondern auch für die Väter, Mütter und Waisenkinder, die ihre Angehörigen suchen“, sagt die Mailänder Rechtsmedizinerin Cristina Cattaneo.
Ist ein Körper identifiziert, werden die Verwandten benachrichtigt. In der Vergangenheit reisten fast ausschließlich in Europa ansässige Familienangehörige an. Sie werden von Psychologen betreut und können dann über die sterblichen Überreste entscheiden. Vittorio Piscitelli erzählt, eine der unvergesslichsten Szenen für ihn in der Vergangenheit war eine Mutter, die aus der Schweiz gekommen war, um die Leichen ihrer fünf Kinder zu identifizieren.