
Es war ein Sonntag im März, an dem der Frühling in das Leben von Amy Blackwood zurückgekehrt ist. Der Tag, an dem ihre Verzweiflung neuer Zuversicht wich. Der Abend, an dem die 29-Jährige von ihrem Krankenbett im Gosford Hospital im Südosten Australiens ein ergreifendes Schicksal im Fernsehen sieht, in der „Sunday Night“ auf Channel 7: die Geschichte ihrer australischen Landsfrau Natalie Langworthy und deren Verlobten Andy.
Es ist die Geschichte eines Paares, das vor einem tragischen Ende steht: Natalie (34), Mutter eines einjährigen Töchterchens, hat Krebs. Blutkrebs. Genauer gesagt eine akute lymphatische Leukämie (ALL). Im Grunde ein Todesurteil. Doch Partner Andy will sich damit nicht abfinden, er durchforstet tagelang das Internet – und entdeckt Würzburg: Hier wird an der Universitätsklinik in einer aufwendigen Studie ein neues Krebsmedikament erprobt. Der Antikörper Blinatumomab soll zügig zur Zulassung gebracht werden. Die bisherigen Ergebnisse sind für die Mediziner und das Münchner Pharma-Unternehmen Micromet fast sensationell. Andy kämpft von Australien aus darum, dass auch seine todkranke Lebensgefährtin in Würzburg behandelt wird. Es gelingt. Und auch bei Natalie Langworthy schlägt das Präparat an. Nach nur zwei Wochen sind keine Krebszellen mehr nachweisbar. Große Zeitungen berichten in Down Under über das Würzburger Wunder, TV-Sender drehen an der Klinik, darunter die britische BBC.
Am Fernsehschirm im australischen Gosford Hospital verfolgt Amy Blackwood gebannt die Genesung ihrer Landsfrau im fernen Unterfranken. Auch Amy ist an der akuten lymphatischen Leukämie erkrankt. Der Krebs trifft eine Frau, die anpacken kann. Ihr Job: bei der Feuerwehr von Gwandalan, irgendwo zwischen Sidney und Newcastle, die Brandeinsätze und die Ausbildung junger Leute zu koordinieren. Im Herbst vergangenen Jahres ist Amy plötzlich ständig müde und schläfrig. Unter der Haut bilden sich seltsame blaue Flecken. Sie lässt sich untersuchen. Am 26. Oktober 2010 schlägt ihr der Befund wie eine Stichflamme ins Gesicht: Leukämie. Was folgt, sind neun Monate Chemotherapie. Es kommt zu Infektionen, das Gehen schmerzt. „Das war eine sehr harte Zeit“, sagt sie rückblickend. Neun- oder zehnmal wird eine Biopsie gemacht. Doch die Krebszellen bleiben. Die Ärzte sind ratlos.
Bis ihr behandelnder Hämatologe im Juni auf einer Konferenz in London Prof. Dr. Max Topp begegnet. Der Krebsmediziner an der Würzburger Uniklinik, Leiter der Studie für Blinatumomab, ist von der Wirksamkeit des Antikörpers bei der akuten lymphatischen Leukämie überzeugt. Bei 75 bis 80 Prozent liegt die Erfolgsquote bisher. Dann geht alles ganz schnell. Nach einer Telefonkonferenz landen Amy Blackwood und ihr Vater Ray (59) Mitte Juli in Frankfurt. Es ist ihr erster Aufenthalt in Europa überhaupt. Zeit zu verlieren ist nicht. Professor Topp: „Bei dieser Krankheit kann eine Woche Verzögerung über Leben und Tod entscheiden.“
Gleich am Tag nach ihrer Ankunft in Würzburg treffen sie ihre Landsfrau Natalie Langworthy. Glücklich über die eigenen Fortschritte ermutigt sie Amy, sich mit dem neuen Medikament behandeln zu lassen. Sich einzureihen in einen – streng kontrollierten und dokumentierten – Versuch am Menschen. An Patienten, die nichts zu verlieren haben. Die von der herkömmlichen Medizin aufgegeben sind. „Austherapiert“, heißt es im Fachjargon.
Wer so am Abgrund steht, klammert sich an jeden Strohhalm. Materielles wird nebensächlich. Die Behandlung in Deutschland kostet die Blackwoods ein kleines Vermögen. 50 000 Euro haben sie bezahlt, weitere 20 000 haben Freunde gesammelt. „Über Geld“, sagt Vater Ray, „haben wir nicht eine Sekunde nachgedacht.“ Quälender für Amy ist die Ungewissheit über den Ausgang des Experiments, dazu das fremde Land, die fremde Sprache. „Ja, ich hatte Angst.“
Am 19. Juli ist es soweit. Im Zentrum für Innere Medizin im Würzburger Stadtteil Grombühl legen die Ärzte der Australierin einen sogenannten Port in die Vene. Durch ihn fließt – als vierwöchige Dauerinfusion – das Mittel, das vielleicht einmal einen Durchbruch in der Krebstherapie bedeutet. Zwei Wochen verbringt Amy Blackwood auf der Station M 41 der Medizinischen Klinik und Poliklinik II. Die Blutwerte werden täglich besser. Nebenwirkungen? Bis auf ein paar Erkältungssymptome keine. Nach 14 Tagen kann Professor Topp den wunderbaren Befund ins Krankenzimmer vermelden: „Vollremission.“ Eine Leukämie ist zum ersten Mal nicht mehr nachzuweisen. Es sind Stunden einer zweiten Geburt für die junge Frau, in deren Augen wieder eine unbändige Lebensfreude funkelt. Todeskandidaten sehen anders aus. „Ich fühle mich so gut wie seit Monaten nicht mehr“, strahlt sie bei einem Treffen in der Klinik. Vor wenigen Wochen, da konnte sie – durch die Krankheit geschwächt – gerade noch Bilder in Illustrierten anschauen. „Jetzt lese ich wieder ganze Bücher!“ Zwischenzeitlich sind ihr Lebensgefährte und ihre Mutter zu einem Besuch eingeflogen. Es ist nicht das erste Mal, dass die Familie Blackwood auf diese Weise geprüft wird: Amys Bruder hatte als Kind ebenfalls Krebs, die gleiche Art. Er konnte, in jungen Jahren noch einfacher, mittels Chemotherapie kuriert werden.
Amy wird noch einige Monate in Würzburg verbringen. Fünf mehrwöchige Zyklen der Blinatumomab-Behandlung sind geplant. Und eigentlich, so Studienleiter Max Topp, würde man eine Stammzellentransplantation anschließen. Nur findet sich derzeit in den weltweit vernetzten Datenbanken kein passender Spender. Möglicherweise, und das wäre das eigentlich Bahnbrechende an dem Würzburger Antikörper, reicht er auch zur dauerhaften Zerstörung der Krebszellen aus. Wobei Onkologen mit dem Begriff „Heilung“ noch behutsamer umgehen als andere Mediziner. Erst wenn fünf Jahre lang keine Leukämiezellen mehr nachzuweisen sind, gilt ein Patient als möglicherweise geheilt.
Diana Twarz ist diesbezüglich ein gebranntes Kind. Zweimal schon durfte sie sich „geheilt“ fühlen, hat zwei Stammzelltransplantationen über sich ergehen lassen. Eine dritte wäre aus Sicht der Ärzte zu gefährlich. Die Studie an der Würzburger Uniklinik – sie ist ihre letzte Chance im Kampf um ein Leben, in dem die großen Träume der 38-Jährigen jäh zerstört wurden. Der Traum von einer eigenen Familie, der Traumberuf. Deshalb hat sie aufgehört zu träumen, aufgehört zu planen. „Ich habe gelernt, mich über den Moment zu freuen. Ich lasse mich überraschen, was kommt, dann werde ich nicht mehr enttäuscht“, sagt sie, und es huscht ihr dabei ein bezauberndes Lächeln ins Gesicht.
1999 wandert sie vom brandenburgischen Spremberg nach Irland aus, will sich als Hotel- und Gastronomiefachfrau eine Existenz aufbauen. Doch nach nur wenigen Monaten zieht es ihr die Füße weg. Als Notfall – sie bekommt kaum Luft – wird sie in eine Klinik in Dublin eingeliefert. Diagnose: akute lymphatische Leukämie. „Alles war zu Ende“, erinnert sie sich an die schweren Stunden, aber Diana Twarz steht wieder auf. Nach zweijähriger Behandlung mit Chemotherapie und Bestrahlung in Cottbus wird sie im März 2002 als geheilt entlassen. Gerade einmal zwei Jahre später trifft sie der erste Rückschlag. Diesmal versuchen es Ärzte in Dresden mit einer Stammzellentransplantation. Sie verläuft ohne Komplikationen, die junge Frau erholt sich im Laufe weniger Monate.
Es folgen gute Jahre, „eine sehr schöne Zeit, ich hatte viel Energie“. Im März 2009 dann der nächste Rückfall, unter dem nicht nur sie, sondern auch ihr erster Stammzellenspender leidet – traurig darüber, dass seine Hilfe nicht von Dauer war. Paradox, aber die schwer krebskranke Patientin richtet ihren gesunden Spender auf: „Er hat mir fünf tolle Jahre geschenkt. Wir haben sie uns beide erkämpft.“ Die neuerliche Transplantation von Stammzellen eines weiteren Spenders hält nur noch zwei Jahre. Am 17. März 2011 erleidet Diana Twarz ihren dritten Rückfall, sechs Tage später wird sie an die Würzburger Uniklinik zu Professor Topp gebracht. Sie ist die neunte Patientin, die für die weltweite Pionierstudie mit Blinatumomab behandelt wird, mittlerweile im vierten Vier-Wochen-Zyklus. Für die Ostdeutsche geht es ums Überleben. Doch wie die meisten Patienten verspürt sie eine Genugtuung, mit den Erkenntnissen aus der Studie in Zukunft auch anderen Krebskranken helfen zu können. Als wäre die eigene bedrohliche Situation nicht Aufgabe genug. Der Tod – er hat sich als unsichtbarer Begleiter in das Leben von Diana Twarz gedrängt. Wenn ihr seelisch und körperlich wieder alles zu viel geworden ist, dann kamen diese schwarzen Gedanken. An Suizid. Oder an das Dahinsiechen, den langsamen Tod im Krankenhaus. „Verdammt“, sagt sie, „so einfach stirbt es sich nicht.“ Aber im Grunde will sie gar nicht so viel grübeln, „das ist Gift für den Kopf“. Und der Behandlungserfolg an der Uniklinik hat der sympathischen Frau einen gehörigen Schub neuen Lebensmut versetzt. Auch bei ihr waren nach zwei Wochen keine Krebszellen mehr zu finden. „Die Werte“, freut sich Topp, „sind exzellent.“
Während der Australierin Amy Blackwood die Euphorie darüber ins Gesicht geschrieben steht, ist es bei Diana Twarz eher ein stilles Glück. Sie ist vorsichtig geworden. Dafür hat ihr das Leben in den vergangenen Jahren zu viele Fallen gestellt. Wer weiß, wo die nächste lauert. In Würzburg jedenfalls hat die Brandenburgerin Vertrauen entwickelt – in ihre eigenen Kräfte, in die Medizin, in ihre Umgebung. Zu keinem Zeitpunkt wähnte sie sich als menschliches Versuchskaninchen. Und selbst wenn – welche Wahl hätte sie gehabt? Im Stadtteil Frauenland konnte sie für die Monate der Behandlung günstig eine Wohnung mieten – von einer Familie, die sich auch sonst um Krebspatienten bemüht. Dass sie sich innerhalb wie außerhalb der Klinik wohlfühlt, ist die 38-Jährige überzeugt, sei maßgeblich für ihre erstaunliche Gesundung. „Das überträgt sich. Ich war positiv im Kopf.“
Die akute lymphatische Leukämie kann Betroffene von einem Tag auf den nächsten zerlegen, wie die beiden Frauen aus Australien und Brandenburg. Sie kann sich aber auch anschleichen, fast unbemerkt, so wie bei Ulrich Schoentaube aus Lohr am Main. Der 71-jährige Rentner ist seit zwölf Jahren auf Achse mit den Spessartfreunden. Das Wandern in der Natur – seine große Leidenschaft. Als er im Mai 2009 bei einem Ausflug ins Hessische nur noch keuchend einen Hügel hinaufkommt, ist seine Frau beängstigt. Sie schickt ihn zum Hausarzt, obwohl die Symptome rasch wieder verschwinden. Die Blutwerte und die anschließende Untersuchung an der Würzburger Uniklinik konfrontieren Schoentaube mit dem drastischen Befund: akute lymphatische Leukämie. Ein weiteres Absinken der Werte, warnt der Hausarzt, wäre lebensbedrohlich. In nur einem Jahr bringt der frühere Maschinenbautechniker 14 Chemotherapien, mehrere Biopsien und Punktionen hinter sich. Im Juli 2010 sieht alles gut aus: Die Leukämie ist weiter nicht mehr nachweisbar. „Ich bin voller Freude nach Hause gegangen“, erinnert sich Schoentaube.
Die Freude währt ein dreiviertel Jahr. Im April 2011 laufen die Blutwerte wieder aus dem Ruder. Die Krankheit ist zurückgekehrt. Am 19. April hängt auch der Lohrer Rentner erstmals am Blinatumomab-Tropf. Auch er sieht sich – über das eigene Befinden hinaus – in Diensten der Wissenschaft: „Schön, wenn man was dafür tun kann. Ich bin 71, und das Leben ist endlich.“ Er verträgt das Medikament gut, nach drei Wochen schickt man ihn samt Infusionsbeutel und Pumpe nach Hause. Schoentaube will es so, der Wanderer fühlt sich eingesperrt. Ende Mai unternimmt er wieder eine erste Tour von neun Kilometern, kurz darauf die frohe Kunde aus der Klinik: Auch bei ihm haben sich die Krebszellen vollständig zurückgebildet. Die nächsten Infusionszyklen folgen, Ende Juli kann er mit seinen Rentner-Freunden wieder die erste größere Wanderung im Spessart unternehmen: 14 Kilometer legen sie dabei zurück. Ulrich Schoentaube hat nur ein Gepäckstück mehr als die anderen im Rucksack zu schleppen: den Infusionsbeutel mit Blinatumomab, dem „Zaubermedikament“ aus Würzburg.
Ob Patienten nun aus dem Spessart, aus Brandenburg oder Australien kommen: Ihre Schicksale machen Mut. Leukämie ist kein Todesurteil. Zwar kann auch der neue Antikörper nicht jedes Leben retten. Erst vor wenigen Wochen starb ein junger ALL-Patient aus Norwegen in der Uniklinik. Er war extrem geschwächt eingeliefert worden. Der bisherige Verlauf der Studie aber lässt aufhorchen – und macht Würzburg für Krebspatienten in aller Welt zu einem Ort der letzten Hoffnung.
Akute lymphatische Leukämie
Die akute lymphatische Leukämie (ALL) ist die häufigste bösartige Erkrankung im Kindesalter und die vierthäufigste Leukämieform bei Erwachsenen. Die Leukämiezellen breiten sich nicht nur im Blut und Knochenmark aus, sondern sie besiedeln auch lymphatische Organe wie Leber, Milz und Lymphknoten. Hauptsymptome sind Blutarmut, Blutungsneigung, Infektanfälligkeit, Lymphknotenschwellung und Fieber (bei Kindern). Für eine Diagnose wird das Knochenmark untersucht. Die Behandlung erfolgt bislang durch intensive Chemotherapie und wird durch die allogene Stammzelltransplantation (Fremdzellen) unterstützt. Hierdurch können 90 Prozent der Kinder geheilt werden, während bei Erwachsenen nur die Hälfte der Patienten langfristig krankheitsfrei bleiben. Ein Rückfall bzw. ein Therapieversagen ist nach wie vor mit einer sehr schlechten Langzeitprognose verbunden. In Deutschland schätzt man die Zahl der jährlichen Neuerkrankungen auf etwa 500 bei Kindern und ebenso vielen Erwachsenen. Quelle: M.Topp/Uniklinik