Beim Gang durch den Treppenflur von Downing Street Nummer zehn wirkt an diesem Dezembermorgen auf den ersten Blick alles wie immer. Der Teppich schluckt die Schritte der Besucher, die Wände strahlen in einem satten Gelb, und an ihnen hängen schwarz-weiße Porträts aller vergangenen Premierminister. Aber: David Cameron fehlt. Dabei gehört auch er seit Mitte des Jahres zur Galerie der Ehemaligen. Die Ereignisse überschlugen sich jedoch in solchem Ausmaß, dass den Angestellten des Regierungssitzes noch nicht einmal aufgefallen ist, dass ihr früherer Chef noch nicht im Rahmen verewigt wurde.
„Wir sind raus“ – es war die Verkündung des Ergebnisses des 24. Juni, das das Vereinigte Königreich veränderte. Und die Nachrichtensprecher sagten den Satz so häufig, als müssten sie sich selbst davon überzeugen, dass es wirklich passiert war: Brexit. Zwar hatten die Umfragen vor dem Referendum um die Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU über Monate hinweg ein Kopf-an-Kopf-Rennen prognostiziert. Dennoch kam das historische Votum für die Briten überraschend. 51,9 Prozent stimmten für den Austritt, 48,1 Prozent für den Status quo.
Trotz der besseren wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Argumente und obwohl die Pro-EU-Kampagne mehr Geld, eine bessere Infrastruktur und deutlich mehr Prominente, Unternehmer, Politiker und Staatschefs als Unterstützer vorweisen konnte. Es half nichts in einem Wahlkampf, der von Beleidigungen, persönlichen Angriffen und garstigen, teils bitterbösen Tönen bestimmt war.
„Lasst uns die Kontrolle zurückholen“, argumentierten die EU-Aussteiger
Das Reizthema Immigration stand im Vordergrund, insbesondere bei der rechtspopulistischen Unabhängigkeitspartei Ukip, zu deren Kerngeschäft das Wettern gegen das Polit-Establishment, Brüssel und Einwanderung gehört. Das offizielle „Leave“-Lager hantierte mit falschen Zahlen und sprach selbst Experten die Kompetenz ab, die künftige Lage abzuschätzen. Häufig schossen die Austrittsbefürworter übers Ziel hinaus. „Lasst uns die Kontrolle zurückholen“, lautete der Tenor. Über das Geld, das nach Brüssel fließt. Über die Grenzen, die für Migranten zu durchlässig seien. Über die Gesetze und Regularien, über die man bei einem Austritt wieder selbst entscheiden könne.
Wortführer waren der Konservative Michael Gove, mittlerweile Ex-Justizminister, Nigel Farage, mittlerweile Ex-Chef von Ukip sowie neuer bester Freund von Donald Trump. Und Boris Johnson, der exzentrische Ex-Bürgermeister Londons, der mit seinem roten „Brexit Battle Bus“ durchs Land fuhr. „Boris“, wie ihn alle Welt nur nennt, wurde nachgesagt, er habe sich nur auf die Seite der EU-Gegner geschlagen, weil er auf den Regierungsposten schielte. Heute ist der Mann mit dem blonden, wirren Haar Außenminister.
Doch auch die EU-Freunde versuchten häufig mit Halbwahrheiten und viel Polemik zu überzeugen. Ein „vergiftetes Klima“ sei entstanden, hieß es nach dem Mord an der pro-europäischen Labour-Abgeordneten Jo Cox nur eine Woche vor der Volksabstimmung. Im November wurde ein Mann für die politisch und ideologisch motivierte Tat zu lebenslanger Haft verurteilt.
David Cameron kündigte nach dem verlorenen Referendum seinen Rücktritt an. Gezockt. Gekämpft. Verloren. Er hatte die Abstimmung angesetzt, um die rebellischen Europaskeptiker bei den Tories zu besänftigen. Zudem wollte er auf diese Weise den Aufstieg von Ukip bremsen. Heute sind die EU-Feinde so stark wie nie.
Auf das Votum folgten turbulente Wochen. Westminster befand sich in einer Schockstarre, sowohl die Konservativen als auch die oppositionelle Labour-Partei zerfleischten sich in Führungsstreits, auf der politischen Bühne spielten sich Intrigen und perfide Machtspiele ab. Johnson verkündete überraschend, er trete im Rennen um das Amt des Premiers nicht an. Ukip-Chef Nigel Farage trat zurück. Die lautstärksten Brexiteers verließen das Schiff. Und es wurde immer offensichtlicher, dass ein konkreter Plan für den EU-Ausstieg fehlte. Am Ende zog die Konservative Theresa May als neue Premierministerin in die Downing Street ein und tauschte fast das gesamte Kabinett aus.
Derweil zeigt sich bis heute ein gespaltenes Land. Politisch. Ökonomisch. Gesellschaftlich. Geografisch – tiefe Risse ziehen sich durch die Gesellschaft. Nordirland und Schottland haben mehrheitlich für den EU-Verbleib gestimmt, weshalb die schottische Regierung mit einem weiteren Unabhängigkeitsreferendum liebäugelt. Zudem häufen sich fremdenfeindliche Angriffe auf der Insel.
„Brexit heißt Brexit und wir machen einen Erfolg daraus“, sagt Thersa May
Wirtschaftlich blieb der große Schock und Banken-Exodus zunächst aus. Dennoch stürzte das Pfund auf historische Tiefstwerte ab, Preise stiegen und in der Wirtschaftswelt herrscht große Unsicherheit. Wie geht es weiter? May versucht mit Parolen zu beruhigen: „Brexit heißt Brexit und wir machen einen Erfolg daraus“, versichert sie allen EU-Gegnern, den Willen der Bevölkerung zu respektieren. Immerhin, der Zeitrahmen ist abgesteckt. So will die britische Regierung das Austrittsabkommen nach Artikel 50 des EU-Vertrags von Lissabon bis Ende März einleiten. Die auf zwei Jahre begrenzten Verhandlungen würden dann beginnen.
Mit konkreten Aussagen, wie die Scheidung von Brüssel in der Praxis aussehen könnte, hält sich May aber zurück. Man wolle die Karten nicht auf den Tisch legen, um die eigene Verhandlungsposition nicht zu schwächen. Kritiker meinen dagegen, der Regierung fehle schlicht der Plan. Tatsächlich steckt die Premierministerin in einem Dilemma.
In den konservativen Reihen gehen die Vorstellungen, wie ein Königreich außerhalb der Gemeinschaft aussehen könnte, weit auseinander. Es gibt sogar offene Differenzen zwischen den sogenannten drei Brexiteers, allesamt Hardliner in Bezug auf Brüssel: Außenminister Boris Johnson, Handelsminister Liam Fox und Brexit-Minister David Davis. Für viele Unternehmen, Banken und Dienstleister ist der freie Zugang zum europäischen Binnenmarkt entscheidend, was auch Schatzkanzler Philip Hammond unermüdlich betont. Etliche Menschen aber stimmten für den Austritt, um die Einwanderung aus EU-Mitgliedstaaten künftig kontrollieren zu können. Beides zusammen geht nicht, heißt es aus Brüssel. „Rosinenpicken“ sei keine Option.
Das Jahr 2016 hat das Königreich auf viele Jahre hinweg verändert. Und dieser Umstand wird sich demnächst nicht nur in Form von David Camerons Porträt an der Wand von Downing Street Nummer zehn zeigen.