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WASHINGTON
Geheimdienstskandal provoziert die Frage, wie weit Spionage verbreitet ist
Von unseren Korrespondenten Jens Schmitz und Rudi Wais
 |  aktualisiert: 22.06.2022 09:28 Uhr

Die Verfassung und die Gesetze der USA sind kein Vertrag mit dem Universum“, schrieb der ehemalige Generalbundesanwalt Michael Mukasey am 10. Juni in einem Gastbeitrag für das „Wall Street Journal“. „Ausländische Regierungen spionieren uns und unsere Bürger aus. Wir spionieren sie und ihre Bürger aus. Willkommen in der Welt.“

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Seit am Wochenende weitere Aktivitäten des US-Geheimdienstes National Security Agency (NSA) bekanntgeworden sind, geben sich die Verantwortlichen ähnlich ungerührt: Jedes Land, das sich mit Fragen der nationalen Sicherheit befasse, sammle Informationen, sagte Außenminister John Kerry am Montag bei einer internationalen Sicherheitskonferenz in Brunei. Die genauen Details der Medienberichte müsse er noch studieren, aber: „So weit ich weiß, ist das für viele Länder nicht ungewöhnlich.“

Kerry war das erste Kabinettsmitglied, das sich nach den Enthüllungen äußerte. Der „Spiegel“ hatte berichtet, dass die NSA Büros der Europäischen Union verwanzt und sich in interne Computernetzwerke eingeklinkt habe. Das Hauptziel in der EU sei Deutschland.

Der Chef der US-Geheimdienste, James Clapper, wollte die Berichte am Sonntag nicht kommentieren, ließ sein Büro aber eine Stellungnahme veröffentlichen: Die Regierung werde der EU und den einzelnen Partnerländern auf diplomatischem Wege und zwischen den Geheimdiensten Rede und Antwort stehen. „Gemäß unseren Grundsätzen werden wir uns zu angeblichen spezifischen Geheimdienstaktivitäten nicht öffentlich äußern“, heißt es weiter. „Wir haben aber klargemacht, dass die Vereinigten Staaten Auslandserkenntnisse von der Art sammeln, wie sie von allen Ländern gewonnen werden.“

Die Botschaft dahinter: Es ist womöglich kein Zufall, dass sich am Wochenende zwar zahlreiche EU-Parlamentarier empört zeigten, wichtige Nationalregierungen aber Zurückhaltung übten. Michael Hayden, ehemaliger Direktor von NSA und CIA, sagte dem Fernsehsender CBS: „Jeder Europäer, der jetzt dramatische Klagereden über internationale Spionage führen will, sollte zunächst nachsehen und herausfinden, was seine eigene Regierung tut.“

Ben Rhodes, Vizesicherheitsberater von Präsident Barack Obama, schien sogar noch weiter zu gehen: „Das sind einige unserer engsten Geheimdienstpartner“, zitierte CNN ihn über die betroffenen Länder. „Es ist wert, festgehalten zu werden, dass die Europäer sehr eng mit uns zusammenarbeiten. Wir haben sehr enge Geheimdienstbeziehungen mit ihnen.“ Wussten europäische Kollegen also von den US-Aktivitäten? Hören die Partner die Bürger des jeweils anderen gar im Austausch ab?

In den USA dominiert weniger die Empörung der Europäer die Schlagzeilen als die Ratlosigkeit darüber, was man den Verantwortlichen noch glauben kann. Die „Washington Post“ schimpfte am Montag auf Seite eins, Sicherheitskräfte klagten in Bezug auf die NSA-Programme über angebliche Fehlinformationen der Medien, obwohl ihre eigenen Angaben oft „irreführend, fehlerhaft oder einfach falsch“ seien. Zu den bekanntesten gehören Äußerungen von Präsident Barack Obama und Geheimdienstchef Clapper.

Obama hatte nach den ersten Enthüllungen behauptet, die NSA-Programme seien „transparent“, obwohl die Richter, die diese Transparenz verbürgen sollen, im Geheimen tagen und ihre Entscheidungen vor der Öffentlichkeit verschließen. James Clapper wiederum war bei einer Anhörung im Kongress gefragt worden, ob die NSA, die eigentlich nur im Ausland schnüffeln darf, auch Daten von Millionen von Amerikanern sammle. „Nein, Sir“, antwortete Clapper dem fragenden Senator und kratzte sich am Kopf – „nicht wissentlich“, schob er noch nach. Beides war falsch. Clapper hat sich schriftlich korrigiert, und Wohlmeinende weisen darauf hin, wie schwierig es für Experten ist, sich öffentlich zu Staatsgeheimnissen zu äußern. Für das Vertrauen der Öffentlichkeit waren die Fernsehbilder von Clappers Auftritt aber fatal.

Auch in Deutschland ist das Misstrauen groß. In der Regierungskoalition in Berlin gibt es durchaus Stimmen wie die des CSU-Abgeordneten Hans Michelbach, die von einem „Alarmsignal“ sprechen. Die US-Regierung könne nicht auf der einen Seite auf ein Freihandelsabkommen mit der EU hinarbeiten, gleichzeitig aber Europa ausspionieren wollen. „Beides zusammen“, sagt Michelbach, „geht nicht.“

SPD-Chef Sigmar Gabriel denkt im Prinzip genauso. „Was jetzt offenbar wird“, schreibt er in einem Aufsatz für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „ist mehr als ein Geheimdienstskandal, sondern geeignet, die freiheitlichen Grundlagen der transatlantischen Wertegemeinschaft zu zerstören.“ Gleichzeitig fordert er die Kanzlerin auf, offen zu sagen, ob sie davon gewusst und es geduldet habe. Angela Merkel wies den Vorwurf von Gabriel umgehend zurück. Ihr Sprecher Steffen Seibert nannte die Unterstellung „zynisch“.

National Security Agency (NSA)

Informationen über das Ausland zu beschaffen ist eine der Aufgaben dieses Geheimdienstes der Vereinigten Staaten. Wie er das macht, ist der Öffentlichkeit seit der Gründung 1962 immer nur im Nachhinein bekannt geworden. 2013 sorgen die Enthüllungen des Computertechnikers Edward Snowden für Aufsehen, der sich zunächst nach Hongkong absetzte und von dort aus britische und amerikanische Reporter mit Informationen versorgte. Was bislang bekannt ist:

Die NSA sammelt routinemäßig sogenannte Metadaten zu Telefonverbindungen in den USA und ins Ausland – Ort, Nummer, Zeitpunkt und Dauer des Anrufs, nicht aber dessen Inhalt. Dass Ermittler im Verdachtsfall auf die Kommunikationstechnik zugreifen können, ist nicht neu. Im Inland war allerdings bislang die Bundespolizei FBI zuständig, und von der ist keine derart umfangreiche Vorratsspeicherung bekannt. Weltweite Metadaten soll auch ein NSA-Programm namens BLARNEY erheben, allerdings für das Internet.

PRISM, das Internet-Überwachungsprogramm, geht darüber noch hinaus. Es zeichnet E-Mails, Chats, Videos, Fotos, Dateien und andere Inhalte auf, die über neun der größten Anbieter abgewickelt werden: Microsoft, Yahoo, Google, Facebook, Paltalk, Youtube, AOL, Skype und Apple. Die Unternehmen sind zur Kooperation verpflichtet.

Auch Daten von Kreditkarten sammelt die Agentur Medienberichten zufolge. Anders als sein Vorgänger George W. Bush kann Präsident Barack Obama zwar darauf verweisen, dass ein geheimes Gremium aus elf Bundesrichtern darüber entscheidet, wann auf die Daten zugegriffen werden darf. Offensichtlich gilt das aber nur, soweit Amerikaner betroffen sind. Denn eigentlich darf die NSA über US-Bürger keine Informationen sammeln. TEXT: JSZ

 
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