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Gauck fordert am Tag der Einheit Reformen
Feierlichkeiten in Stuttgart: Der Bundespräsident wünscht sich eine stärkere deutsche Beteiligung bei der Lösung politischer, wirtschaftlicher und militärischer Konflikte. Die Nation dürfe Ja sagen zu sich selbst.
Feststimmung: Mehrere Hunderttausend Bundesbürger kamen zu den Einheitsfeiern nach Stuttgart. Bei strahlend blauem Himmel und meist bester Laune feierte sich das Volk zwischen Maultasche und Currywurst selbst.
Foto: afp | Feststimmung: Mehrere Hunderttausend Bundesbürger kamen zu den Einheitsfeiern nach Stuttgart. Bei strahlend blauem Himmel und meist bester Laune feierte sich das Volk zwischen Maultasche und Currywurst selbst.
Von unserer Korrespondentin Gabriele Renz
 |  aktualisiert: 11.12.2019 15:27 Uhr

Angela Merkel muss schnell zur schwarzen Limousine. Sie hat ihr Handy vergessen, so kurz vor dem Festgottesdienst zum Tag der deutschen Einheit. Noch während Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) am Fuße des großen Schwabendichters Schiller den Stadterklärer gibt, eilt die Bundeskanzlerin kurz davon und steckt das Mobiltelefon in die Blazertasche ihres dunkelblauen Anzugs. Es bleibt ihr Geheimnis, was sie in der ersten Reihe des Stiftskirchenschiffs damit anfängt.

Dort sitzt sie, von Kameras intensiv begleitet, neben Gastgeber Kretschmann, Bundespräsident Joachim Gauck, dessen Lebensgefährtin Daniela Schadt, Landesmutter Gerlinde Kretschmann, Eva und Andreas Voßkuhle, dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, sowie dem Bundestagspräsidenten Norbert Lammert. Auch einige Länderchefs kamen, bis auf Horst Seehofer, der am Tag der Deutschen Einheit ein separatistisches Mir-San-Mir-Signal gab: Er wohnte am 25. Todestag von Franz-Josef Strauß den Feierlichkeiten in Rott am Inn bei, zu denen auch eine Veranstaltung im Landgasthof Stechl gehört.

Viele Spitzen der Republik waren erst an diesem Morgen angereist, andere, wie Lammert, bestritten schon am Vortag einen Part als Interviewpartner beim Bürgerfest – ein ausgelassenes Fest, das zwei Tage lang die gesamte Stadt in Beschlag nahm. Anders als im Vorjahr in München, war in Stuttgart die Festmeile weitläufig. Die Besucher tüteten massenweise Infomaterial und kleine Präsente ein – wie im Baden-Württemberg-Pavillon ein „Kehrwoche 2.0“-Reinigungspad für das Smartphone. „Der Renner“, wie ein Mitarbeiter berichtet.

Nur Teile der Stuttgarter Innenstadt glichen am 3. Oktober einer Sperrzone. Am Vormittag schoben sich bereits Menschenmassen über die Ländermeile, ließen sich mal vor dem Brandenburger Tor am Berlin-Stand, mal mit Bollenhut vor den Pfahlbauten im Zelt der Landestouristiker ablichten, aßen Currywurst und Saumagen, tranken Köstritzer und Weißbier.

Schillerplatz und Stiftskirche waren dagegen zeitweise No-go-Areas. Jedenfalls fürs Volk. Bundespräsidialamt und Bundeskriminalamt kannten kein Pardon. So liefen die Ankömmlinge nur an ausgewählten Bürgerdelegationen aus allen 16 Bundesländern über den roten Teppich. Erst nach dem Festgottesdienst mit den Bischöfen Fischer, July, Fürst und Zollitsch stand ein „Bad in der Menge“ auf dem Plan.

In dicken Trauben warteten Schaulustige auf die Staatsprominenz. Der geplante Spaziergang schrumpfte offenbar auf Druck der Kanzlerin zu einer kleineren Begegnung mit den Menschen hinterm Absperrgitter. Sie hatte zuletzt im Wahlkampf schlechte Erfahrungen bei einer CDU-Veranstaltung in der Reithalle gemacht, als S21-Gegner tröteten und brüllten. Das wollte sie sich nicht noch einmal antun. Aber nicht nur für Merkel, auch für Kretschmann ist Stuttgart ein heißes Pflaster.

Am Mittwoch verköstigte Regierungschef Kretschmann die Bürger aus 16 Bundesländern auf dem Schillerplatz mit geschmelzten Maultaschen, um hernach abzufragen: „So, wie schmeckt ihnen unser Nationalgericht?“ „Superlecker“, antworteten Niedersachsen und Hamburger. Der Begrüßungsrede Kretschmanns konnten sie indes nicht ungestört folgen. Etwa 50 Stuttgart-21-Gegner hatten den gastgebenden Ministerpräsidenten mit lautstarken „Judas“- und „Oben bleiben“-Rufen von der SWR-Kochbühne hinüber begleitet. Eine hält ihm ein Hannah Arendt-Taschenbuch mit dem Titel „Wahrheit und Lüge in der Politik“ bedenklich nah vors Gesicht. Personenschützer und Beamte des „Anti-Konflikt-Teams“ beobachten nur. Kretschmann diskutiert geduldig, aber bestimmt: In der Politik zähle nicht Wahrheit, sondern Mehrheit.

Die Gäste aus Deutschland, zum ausgelassenen Feiern nach Stuttgart gekommen, schauen etwas irritiert. Eine Frau aus Bremen will „in vier Sätzen“ wissen, worum es geht, woraufhin ein Bahnhofsgegner ausholt – zu lange. Die Hanseatin widmet sich rasch wieder den Maultaschen. Am Tisch der bayerischen Delegation ist man sich ohnehin einig: „Die haben doch abgestimmt“, sagt einer. Ein anderer: „Das stimmt: Mehrheit ist Mehrheit.“ Die umstehenden Baden-Württemberger finden alles „ein bissle peinlich, wo doch Leute aus der ganzen Bundesrepublik da sind“.

Tags darauf ist die Stimmung eine andere, als die Politprominenz aus der Kirche kommt. Eine Gruppe von der „Stiftung Partnerschaft mit Afrika“ stimmten zur Freude der Festgäste eine Eigenkomposition aus „Kein schöner Land“ und einem afrikanischen Lied an, das die Altstadt im Nu mit Heiterkeit erfüllte. Gauck signiert Bücher, erkundigt sich nach Kindesalter und sagt Richtung Medienpulk: „Schön, dass Menschen da sind, die sich mit mir freuen, was uns gelungen ist.“ Es gebe zwar auch „Hinweise, was noch nicht geregelt ist“, meint er in Anspielung auf die durchgestrichenen S21-Flaggen im Menschenpulk, aber „heute lacht die Sonne“.

„Entspricht unser Engagement der Bedeutung unseres Landes?“
Joachim Gauck, Bundespräsident

Dann ist man wieder unter sich: Kretschmann und Gauck reden vor 1500 geladenen Gästen in der Liederhalle. Baden-Württemberg zeigt sich vielseitig begabt und augenzwinkernd: Beim Festakt ist eine Komposition des Mannheimers Andreas Tarkmann zu hören, der viel dekorierte Stuttgarter Staatsopernchor singt die Nationalhymne in neuem Arrangement, das Gaultier Dance Ensemble und das anrührende Kükenballett der Cranko-Schule rahmen den Baden-Württemberg-Part der Feierstunde. Zeigen, was man kann, wollte die Landesregierung. Sich aber auch „bunt“ und als „neues Baden-Württemberg“ präsentieren. Am Abend zuvor erschien Regierungschef Kretschmann auf der imposanten Bühne vor dem Neuen Schloss, wo rund 20 000 junge Menschen mit heimischen Hip-Hop-Stars „Orsons“ oder Max Herre sangen und wippten. Die „Creme de la Creme“ des Hip-Hop, sei hier versammelt, lobte Kretschmann und wünschte Spaß. Hinter der Bühne redeten der Star aus Stuttgart und der Politiker aus Laiz kurz über Musikhochschulen.

Zum Abschluss heizten mit City, den Prinzen oder Camouflage, die All-Stars der vereinigten Republik, nochmals ein. Im kommenden Jahr ist Hannover dran.

Für Bundespräsident Joachim Gauck ist es die erste Rede am Tag der Deutschen Einheit. Beim Festakt denkt der frühere Pastor zurück an die „beglückendste Zeit meines Lebens“. Der 3. Oktober erinnere „nicht nur an die überwundene Ohnmacht, sondern auch vom Willen Freiheit in Freiheit zu gestalten“. Gauck betont das „Wir alle“, das das Motto des Stuttgarter Festes „Zusammen einzigartig“ aufnimmt.

Er spricht über die Verantwortung Herausforderungen der frisch gewählten Abgeordneten: Der demografische Wandel bringe nicht nur eine „schwierige Lage“ der Umlagenfinanzierung mit sich, sondern auch den hilfreichen „Druck, der manches in Bewegung bringt“. Noch immer werde „nicht ehrlich diskutiert über Wünschenswertes und Machbares“. Gauck wünscht sich angesichts des demografischen Wandels „Mut zu weitsichtigen Reformen“ in der frühkindlichen Bildung, im Pflegesystem, im Staatsbürgerschaftsrecht. Politik bewege sich nicht schnell genug auf Herausforderungen. Kritische Worte findet er auch über die „digitale Revolution“, die es zwar leichter mache, Widerstand gegen autoritäre Regime zu organisieren, aber auch Gefahren berge. „Datenschutz sollte so wichtig werden wie Umweltschutz für den Erhalt der Lebensgrundlagen.“

Europa ist dem Staatsoberhaupt ebenfalls ein Schwerpunkt wert. Der Zusammenhalt habe mit der Krise „Risse bekommen“, sagt Gauck. Entscheidend seien der Wille zur gemeinsamen Gestaltung der Zukunft und „das Europaverbindende zu stärken“. Gauck zitiert Kretschmanns Lieblingsphilosophin Hannah Arendt, die korrekt die „Ohnmacht“ Deutschlands nach dem Krieg beschrieben habe. Heute werde Deutschland aber als starker Part in Europa gewünscht.

Der Bundespräsident fragte herausfordernd: „Entspricht unser Engagement der Bedeutung unseres Landes?“ Wenn Deutschland einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der UN anstrebe, „welchen Part sind wir bereit zu übernehmen?“ Deutschland dürfe sich nicht klein machen. „Ich sehe unser Land nach Jahrzehnten demokratischer Entwicklung als Nation, die Ja sagt zu sich selbst.“

 
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