Er kam nicht als Oberlehrer mit erhobenem Zeigefinger, sondern als Partner auf Augenhöhe. Er lobte Fortschritte und sprach bestehende Probleme offen an. Als erstes nichtafrikanisches Staatsoberhaupt sprach Bundespräsident Joachim Gauck (73) am Montag vor dem Rat der ständigen Vertreter der Afrikanischen Union (AU) in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba.
„Stereotype sind schlecht, für Europa und für Afrika. Wir brauchen eine Partnerschaft von gleich zu gleich, um die globalen Herausforderungen zu bewältigen“, sagte Gauck. Die Vorgängerorganisation der AU, die OAU, feiert in diesem Jahr ihr 50-jähriges Bestehen. Das Jubiläum ist der Anlass für Gaucks Äthiopienreise, mit der er den gesamten Kontinent würdigen möchte. In seiner Rede lobte Gauck die stärker werdende Rolle, die der einst zahnlose Tiger AU bei der Wahrung und Wiederherstellung von Frieden und Sicherheit spielt. Die Vorgängerorganisation OAU hatte bei bewaffneten Konflikten auf dem Kontinent meist weggeschaut. Mittlerweile schickt die AU oft eigene Friedenstruppen in Konfliktregionen zwischen Somalia und Mali. Sich auf Nelson Mandela berufend sagte Gauck, dass er „der kraftvollen Zuversicht“ sei, dass Afrika aus dem Schatten heraustreten und ein neues Kapitel in seiner Geschichte beginnen werde. Er lobte Fortschritte bei der Demokratisierung und forderte zugleich die Stärkung rechtsstaatlicher Institutionen ein. „Wo immer meine Heimat, Deutschland, dabei beratend zur Seite stehen kann, werden wir dies gerne tun“, kündigte der Bundespräsident an.
Starke wirtschaftliche Entwicklung
Zudem wies er auf die starke wirtschaftliche Entwicklung des einst vom Westen fast aufgegebenen Kontinents hin. Sechs der zehn am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften liegen in Afrika. Um sein Potenzial noch stärker entfalten zu können, versprach Gauck, der am Mittwoch eine von Deutschland unterstützte Berufsschule in der äthiopischen Hauptstadt besuchen wird: „Deutschland stellt seine guten Erfahrungen in der Berufsausbildung gerne zur Verfügung.“
Offen sprach Gauck auch die immer noch oft auftretenden Verletzungen der Menschenrechte an, die die einstigen europäischen Kolonialherren den Afrikanern jahrhundertelang selbst nicht gewährten. „Menschenrechtsverletzungen sind für mich nicht mit dem Verweis auf kulturelle Traditionen zu rechtfertigen“, so der ehemalige DDR-Bürgerrechtler. Er forderte unter anderem die Stärkung der Frauenrechte in Afrika ein.
Im Gastgeberland Äthiopien werden Menschenrechte immer wieder verletzt. Seit dem Sturz des kommunistischen Diktators Mengistu Haile Mariam vor knapp 22 Jahren wird Äthiopien autokratisch von der Parteienkoalition Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker (EPRDF) regiert. Bei der letzten Parlamentswahl im Mai 2010 erzielte die EPRDF in einer international umstrittenen Wahl 545 von 547 Parlamentssitzen. Menschenrechtsorganisationen monieren, dass der politische Spielraum der Opposition, kritischer Journalisten, religiöser Minderheiten und Nichtregierungsorganisationen stark eingeschränkt wird.
„Äthiopiens Menschenrechtslage ist katastrophal. Hunderte politische Gefangene werden ohne faire Gerichtsverfahren festgehalten und die Religionsfreiheit von Muslimen wird willkürlich eingeschränkt“, sagte der Afrikareferent der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV), Ulrich Delius, zwei Tage vor Gaucks Reise nach Äthiopien. Mehrere Organisationen forderten den Bundespräsidenten auf, die Menschenrechtsverletzungen bei seinem Besuch offen anzusprechen. Gauck tat dies bereits am Sonntagabend bei einem Treffen mit dem äthiopischen Premierminister Hailemariam Desalegn. Gauck betonte anschließend, dass die Unterredung mit dem Regierungschef offen und freundschaftlich verlief, schränkte jedoch ein: „Wir waren natürlich nicht an jedem Punkt einig.“
Um sich ein genaueres Bild von den demokratischen Defiziten in dem bitterarmen Land zu machen, hatte er am Montag vor seiner Rede in der AU bereits mit Vertretern der äthiopischen Zivilgesellschaft diskutiert. In der Unterredung zeichneten die Vertreter nach Angaben von Teilnehmern ein bedrückendes Bild der Menschenrechtslage, übten deutliche Kritik an der Regierung und baten den deutschen Besucher, sie bei der Durchsetzung von Demokratie und Menschenrechten zu unterstützen. Gauck sagte nach dem Gespräch: „Ich habe eine Gefahr gesehen, die für diese Gesellschaft existiert. Die Gefahr, dass ein großer Teil der politischen Bevölkerung in Ohnmachtsgefühle abdriftet.“ Gauck appellierte an die äthiopische Regierung, die marginalisierten Gruppen stärker in den politischen Gestaltungsprozess einzubinden.