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Gastbeitrag: Warum Europa mit der Abschottung die falsche Strategie wählt
Von unserem Gastautor Dieter Wenderlein
 |  aktualisiert: 30.10.2017 03:23 Uhr

In der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung um Flüchtlinge und Integration zeigt sich die bemerkenswerte Unfähigkeit, die Vielzahl der mit dem Thema „Flucht“ verbundenen Probleme einzuordnen und abzuwägen. So erzeugen die andauernden Informationen über die hohe Zahl der nach Europa „strömenden“ Flüchtlinge und die Diskussion um die innere Sicherheit eine gesellschaftliche Alarmstimmung, die differenzierte Analysen erschwert. Man verliert das Gespür für die wahren Dramen der Welt.

Als einfache Lösung des „Flüchtlingsproblems“ gilt, die Zahl der ankommenden Flüchtlinge zu reduzieren und die der Abgeschobenen zu erhöhen. Man betrachtet die (Beinahe-)Schließung der zentralen Mittelmeerroute seit diesem Sommer als Erfolg, nachdem noch im ersten Halbjahr 2017 mit laut UNHCR 83 752 Flüchtlingen etwa so viele Menschen von Nordafrika nach Italien kamen wie im gleichen Zeitraum des vergangenen Jahres.

Dass inzwischen Schleuser und Flüchtlinge andere Flüchtlingsrouten über das westliche Mittelmeer nach Spanien und über das Schwarze Meer eröffnen, beweist nur, wie unrealistisch es ist, die „Flüchtlingskrise“ durch die Schließung von Fluchtrouten lösen zu wollen.

Phänomen „Flucht“ ist viel komplexer

Statt legaler Einreisewege öffnet Europa das Portemonnaie für Migrationspartnerschaften mit afrikanischen Regierungen, die eigentlich selbst Fluchtursachen produzieren, und hofft so irreguläre Migrationsströme und illegalen Handel durch erhöhte Grenzsicherung zu unterbinden.

Die Strategie, die „Flüchtlingskrise“ durch die Deckelung oder gar Unterbindung des Flüchtlingszuzugs zu lösen, ist nicht nur zu simpel, sondern einfach falsch. Der Fehler ist, dass sie der Realität und der Komplexität des Phänomens „Flucht“ nicht gerecht wird, geschweige denn Probleme wirklich löst.

Die ethische Dimension und die Konsequenzen ihrer Nichtbeachtung werden zu leicht ausgeblendet. Nicht nur hinsichtlich des Umgangs mit Flüchtlingen beschreibt der Soziologe Zygmunt Baumann eindringlich die negativen Folgen der gesellschaftlichen Tendenz, „bestimmte Menschengruppen aus dem Bereich der moralischen Verpflichtung auszuschließen“, „als etwas, das ,jenseits von Gut und Böse‘ liegt“.

Wenn die Vorurteile überwiegen

Die Europäer haben das Gefühl, Opfer von Umständen zu sein, auf die sie nur geringen oder gar keinen Einfluss haben. Die politische Sprache gibt der Bedrohung ein Gesicht, in dem sie den Migranten meist kaum oder gar nicht durch Fakten gestützte Unterstellungen zuordnet, wie dass sie Kriminalität ins Land bringen, nur von den europäischen Sozialsystemen profitieren oder Europa zum Islam konvertieren wollten. Diese Argumentation reinigt das Gewissen und hilft, die Flüchtlinge außerhalb unserer Sorge zu halten und ihnen grundlegende Menschenrechte abzusprechen.

Im Grunde berauben sich aber auch die Europäer selbst großer Bereicherungen: Beispielsweise helfen uns Migranten, den Wert eines Europas, in dem Demokratie, Frieden und Freiheit herrschen, besser zu verstehen.

Der Ausgangspunkt aller Überlegungen müsste das Mitleid mit dem Elend der Flüchtlinge, der Schmerz über die vielen verlorenen Menschenleben sein. Die 2253 Kinder, Frauen und Männer, die laut UNHCR von Januar bis Juni 2017 im Mittelmeer ertranken oder vermisst sind, sind eine Wunde, die schmerzt.

Gegen die Gleichgültigkeit

Es ist kein Zufall, dass Papst Franziskus im Juli 2013 seine erste Reise als Papst nach Lampedusa unternahm. Dort benannte er als enormes Problem die Gleichgültigkeit angesichts der Nachrichten über so viel Leid: „Wer hat geweint um diese Menschen, die im Boot waren? Um die jungen Mütter, die ihre Kinder mit sich trugen? Um diese Männer, die sich nach etwas sehnten, um ihre Familien unterhalten zu können? Wir sind eine Gesellschaft, die die Erfahrung des Weinens, des ,Mit-Leidens‘ vergessen hat: Die Globalisierung der Gleichgültigkeit hat uns die Fähigkeit zu weinen genommen!“

Die Kontroverse „Willkommenskultur versus Abschottung“ muss um die großen Tragödien, die die Menschen in die Flucht treiben – Kriege, Verfolgung, die Armut in Afrika – erweitert werden. Auch die anstehenden Koalitionsverhandlungen wären hierfür eine große Chance. Nötig sind humane Regelungen zur Aufnahme und Integration von Flüchtlingen und Migranten und nicht nur eine angstgetriebene Scheinlösung der „Flüchtlingskrise“ durch Maßnahmen zur Reduzierung der Flüchtlingszahlen. Und die Fragen, wie Krisen und Kriege diplomatisch gelöst oder die Armut in Afrika wirksam bekämpft werden können, sollten einen prominenten Platz auf der politischen Agenda bekommen.

Diesen aktuellen Themen und der Frage, wie das Zusammenleben der Kulturen gelingen kann, widmeten sich Mitte September etwa 400 Vertreter der Weltreligionen beim internationalen Friedenstreffen der Gemeinschaft Sant'Egidio in Münster und Osnabrück. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte an dem Treffen unter dem Motto „Wege des Friedens – Religionen und Kulturen im Dialog“ teilgenommen.

Sant?Egidio organisiert jährlich die Friedenstreffen im Geist des historischen Gebetstages von Assisi, zu dem 1986 Johannes Paul II. eingeladen hatte. Ziel ist, das Netz des Dialogs zwischen den Religionen enger zu knüpfen, um Freundschaften zu stärken und konkrete Wege der Zusammenarbeit zu suchen. Denn, wie Andrea Riccardi, der Gründer von Sant?Egidio, in Münster sagte: „Die Religionen können Wasser sein, welches das Feuer der Gewalt löscht, aber auch Benzin, das es entzündet.“

Eine Frucht der Friedenstreffen ist das Projekt der „Humanitären Korridore“ zur legalen Einreise von Flüchtlingen nach Europa, das Sant?Egidio in Zusammenarbeit mit ökumenischen kirchlichen Trägern und staatlichen Behörden ins Leben gerufen hat. Durch die Humanitären Korridore sind bisher über 900 vor allem syrische Flüchtlinge auf sicheren Wegen nach Italien und Frankreich eingereist. In den kommenden Monaten werden 500 eritreische, somalische und südsudanesische Flüchtlinge aus Äthiopien folgen.

Es braucht Menschen guten Willens

Die Humanitären Korridore beziehen viele Menschen guten Willens mit ein: Orden, Kirchen, Privatpersonen und Organisationen, die sich um die Integration der geflüchteten Familien kümmern. Damit sind die Humanitären Korridore ein Modell der legalen, sicheren und gut vorbereiteten Einreise und der Integration, in dem staatliche, kirchliche und zivilgesellschaftliche Akteure gemeinsam ihre Verantwortung wahrnehmen.

Das beste Heilmittel gegen Angst vor dem Fremden ist der Dialog, die Begegnung, die Zusammenarbeit in der konkreten Hinwendung zum Menschen, der der Hilfe bedarf. Oder wie Papst Franziskus beim Friedenstreffen 2016 in Assisi sagte: „Friede heißt Zusammenarbeit, lebendiger und konkreter Austausch mit dem anderen, der ein Geschenk und kein Problem ist, ein Bruder, mit dem man eine bessere Welt aufzubauen versucht.“

 
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