Gastbeitrag
Am Anfang stand der Gedanke: „Nie wieder!“ Nie wieder Krieg, nie wieder Gräueltaten, nie wieder so viele Opfer. Mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge am 25. März 1957 verbanden die sechs Gründungsväter genau diesen Gedanken: dass sich die Geschichte nicht wiederholen darf.
Das ist jetzt genau 60 Jahre her, und wir stehen wieder vor einem Wendepunkt. Wir glauben, dass es angesichts der neuen Risiken und Unsicherheiten in unserer globalen Welt wichtig ist, dass wir unser Bekenntnis zu einer gemeinsamen, europäischen Zukunft erneuern. Wir arbeiten für ein Europa, in dem alle Bürgerinnen und Bürger gleiche Rechte haben und auch gleich behandelt werden. Es ist ein Europa von bald 27, das entschlossen handeln und seinen Bürgerinnen und Bürgern auch Hoffnung und Selbstbewusstsein signalisieren muss.
Dabei ist eines klar: Wir müssen die Frage klären, wie die EU der Zukunft aussehen soll. Die Antwort darauf haben wir noch nicht, und es ist auch keine Frage, die wir in Brüssel alleine entscheiden können. Europa lässt sich nicht von Brüssel aus verordnen. Es ist eine Frage, die alle angeht und breit diskutiert werden muss. Wir sollten aber auch ehrlich und realistisch sein. Brüssel kann nicht alle Probleme alleine lösen. So können gemeinsam beschlossene Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxide nur dann greifen, wenn auf lokaler und nationaler Ebene auch entsprechende Maßnahmen für eine gute Luftqualität getroffen werden.
Genauso sollten wir aber auch nicht glauben, dass der Nationalstaat die Antwort auf die drängenden Fragen unserer Zeit ist. Bestes Beispiel dafür ist die Finanzkrise. Hätte es den Euro nicht gegeben, wäre Europa wie Anfang der 1990er Jahre mit großen Währungsschwankungen und steigenden Zinsen konfrontiert gewesen.
Aus all diesen Gründen sind wir überzeugt, dass es an der Zeit ist, eine wirklich ehrliche Debatte darüber zu führen, welche Union wir in Zukunft haben wollen. Die Optionen liegen auf dem Tisch: Wir könnten weitermachen wie bisher. Das heißt beileibe nicht, dass wir uns auf unseren Lorbeeren ausruhen wollen, sondern dass wir uns auf folgende Politikbereiche konzentrieren: die Vollendung des Binnenmarkts, den digitalen Binnenmarkt, die Energieunion, die Kapitalmarktunion und die Verteidigungsunion.
Wir könnten auch eine völlig andere Richtung einschlagen und die EU auf den Binnenmarkt reduzieren. Allerdings: Europa ist heute weit mehr als ein gemeinsamer Markt für Waren und Kapital. Wir würden diejenigen Werte verraten, für die wir jahrhundertelang gekämpft haben.
Ein drittes Szenario ist das Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Dabei könnten einige Mitgliedsländer in bestimmten Bereichen enger zusammenarbeiten als andere. Dies ist bereits heute Realität: beim EU-Patentgericht, beim Scheidungs- und Sachrecht, bei der europäischen Staatsanwaltschaft. Diese Beispiele einer engeren Zusammenarbeit zeigen, dass nicht alle mit der gleichen Geschwindigkeit voranschreiten, alle aber an einem Strang ziehen müssen.
Eine weitere Option wäre, dass die Mitgliedstaaten ihr gemeinsames Engagement in einigen wenigen Bereichen deutlich ausbauen, nämlich in denen unsere Maßnahmen einen echten Mehrwert erbringen und in anderen Bereichen unsere Aktivitäten zurückfahren, wenn die Mitgliedstaaten uneinig sind oder ein Problem besser alleine bewältigen können.
Die fünfte und letzte Option, die wir identifiziert haben, ist, dass die Mitgliedstaaten in allen Bereichen mehr Machtbefugnisse und Ressourcen teilen und Entscheidungen gemeinsam treffen. Wir haben diese fünf Optionen vorgestellt, um eine Grundlage für die Debatte in nationalen Parlamenten und Regierungen, mit Zivilgesellschaft und Bürgern aller Gesellschaftsschichten zu haben. Wie Europa am Ende aussieht, ob es eine Mischform der verschiedenen Szenarien gibt, bleibt abzuwarten.
2019 finden die nächsten Wahlen zum Europaparlament statt. Unsere Zukunft muss von uns allen gestaltet werden, sie muss uns allen gehören. Nicht den Institutionen oder den Politikern, sondern den Menschen, die sie gewählt haben. Bisher war es leider oft so, dass die Staats- und Regierungschefs gesagt haben, was sie nicht wollen. Jetzt drehen wir den Spieß um und fragen, was sie wollen.
In den letzten 60 Jahren haben wir viel erreicht in Europa. Aber dieses Europa ist keine Selbstverständlichkeit. Wir müssen uns entscheiden, welches Europa wir wollen. Dabei sollten wir uns davon leiten lassen, welches Europa wir den nächsten Generationen überlassen. Denn letztlich kommt es nicht darauf an, in welche Welt wir hineingeboren wurden, sondern welche wir unserer Nachwelt überlassen.
Der Autor Jean-Claude Juncker ist seit 2014 Präsident der Europäischen Kommission. Er wurde 1954 in Luxemburg geboren. Von 1995 bis 2013 amtierte er als Premier seines Landes. Diesen Gastbeitrag zum 60. Jubiläum der Römischen Verträge stellte er ausgewählten europäischen Zeitungen zur Verfügung. Foto: dpa