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Gastbeitrag: Im Spannungsfeld des EU-Rechts
Von unserem Gastautor Lüder Gerken
 |  aktualisiert: 03.01.2016 03:53 Uhr

Gastbeitrag

Es ist ein Witz, aber einer mit Symbolkraft:

Vor wenigen Tagen trafen sich zwei Jesuiten, einer aus Deutschland und einer aus Frankreich. Wie das unter Jesuiten so üblich ist, ging es bald um Grundsätzliches – und zwar um die Frage, ob Priester zur selben Zeit beten und rauchen dürfen. Der deutsche Jesuit vertrat energisch die Meinung, dass sich beides ausschließe. Der Franzose hielt diese Haltung für „typisch deutsch“. Da sie sich nicht einigen konnten, beschlossen sie, ihren jeweiligen Provinzial – den Leiter ihrer Ordensprovinz – zu fragen. Als sie sich wiedersahen, fragte der französische Jesuit: „Was hat dein Provinzial gesagt?“ Der Deutsche erwiderte: „Er sagte sofort: Das ist verboten!“ „Erstaunlich“, sagte der Franzose, „meiner sagte: gar kein Problem.“ Der deutsche Jesuit sah ihn entgeistert an. Plötzlich fragte der Franzose: „Was hast du denn gefragt?“ „Na was denn schon? Natürlich, ob man beim Beten rauchen darf.

“ „Tja“, sagte der französische Jesuit, „immer dasselbe Problem mit euch Deutschen: Du hättest fragen müssen, ob man beim Rauchen beten darf.“

Was lehrt uns dieser Vorfall? Andere Länder, andere Sitten? Oder dass man selbstverständliche Regeln nicht einhalten muss, wenn man sie sich nur entsprechend zurechtbiegt? Beides. Wir Deutsche empfinden, dass in der EU immer öfter und immer massiver gegen die geltenden Vorschriften verstoßen wird. Eine Auswahl: • Griechenland durfte 2001 den Euro einführen, obwohl es – trotz Fälschung der relevanten Zahlen – die Aufnahmebedingungen nicht erfüllte. • Deutschland und Frankreich verstießen 2003 gegen die EU-Vorschriften zur Begrenzung der Staatsverschuldung, und dennoch wurde das vorgeschriebene Sanktionsverfahren nie eingeleitet. • Der Staatshaushalt Frankreichs verstößt seit Jahren fortgesetzt gegen EU-Recht, und die EU-Kommission erfindet immer wieder neue Rechtfertigungen, warum sie nicht dagegen vorgeht, wie es ihre Pflicht wäre. • Griechenland war Anfang 2010 bankrott und bekommt seitdem, obwohl dies ausdrücklich verboten ist, massive Kredithilfen von den anderen Euro-Staaten.

• Die Europäische Zentralbank kauft – inzwischen für Hunderte Milliarden Euro – Staatsanleihen von Euro-Staaten und finanziert so die Haushaltsdefizite, obwohl ihr die Staatsfinanzierung untersagt ist.

Verkommt das EU-Recht zur Beliebigkeit? Wer über die Grenze schaut, stellt fest: Diese Frage stellen sich zwar Deutsche und andere Nordeuropäer. In romanischen Ländern spielt sie dagegen keine Rolle. Die oben beschriebenen Vorgänge werden dort nicht einmal als Rechtsverstöße wahrgenommen. Das hat kulturelle Gründe: Bei uns gilt das Recht als Beschränkung des Handlungsspielraums der Politik: Das Recht steht über den politischen Zielen und Erwägungen. Dort gilt das Recht als dienendes Instrument für die Durchsetzung politischer Ziele: Primat des Politischen statt Herrschaft des Rechts.

Wir Deutsche können nicht einmal den Zeigefinger heben. Denn unsere Politiker haben sich kräftig an der Demontage des Rechts beteiligt. Zwar ist man sich in Berlin durchaus bewusst, dass man massive Rechtsverstöße begeht. Aber das politische Ziel des europäischen Zusammenhalts halten die meisten deutschen Politiker für wichtiger. In den obigen Beispielen haben sie daher stets ihre Hand gereicht – wenn auch in jüngerer Zeit immer zögerlicher und widerstrebender.

Die fortgesetzten Rechtsbrüche in der jüngeren Vergangenheit haben zu einer großen Spannung geführt. Die Entfremdung zwischen nördlichen und südlichen Mitgliedstaaten hat ein besorgniserregendes Ausmaß angenommen. Sie setzt hinter die Zukunft der Europäischen Union ein großes Fragezeichen.

Vor einiger Zeit gab es bei einer Veranstaltung einen Disput zwischen zwei hohen Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland. Der eine rief aus: „Es gibt keine Alternative zur europäischen Integration!“ Darauf erwiderte der andere: „Es gibt keine Alternative zum Rechtsstaat!“ Das ist das Spannungsfeld, in dem sich die europäische Einigung heute bewegt.

Fragen Sie sich einmal, liebe Leser: Was von beidem ist Ihnen wichtiger?

Man muss aber auch eine andere Frage stellen: Kann die europäische Integration, kann die EU auf Dauer Bestand haben, wenn in den Mitgliedstaaten dem Recht so unterschiedliche Bedeutung beigemessen wird und wenn dieses Recht aufgrund politischer Opportunität zunehmend mit Füßen getreten wird? Freilich ist diese Frage – um es mit dem französischen Jesuiten zu sagen – „typisch deutsch“.

Lüder Gerken

Der 57-jährige Ökonom studierte Wirtschaftswissenschaft und Rechtswissenschaft. Anschließend leitete Lüder Gerken von 1991 bis 2001 das Walter-Eucken-Institut in Freiburg im Breisgau. Er habilitierte sich 1998 an der Universität Bayreuth. Von 2001 bis 2004 war Gerken Vorstand der Stiftung Marktwirtschaft in Berlin. Seit 1999 ist er Vorstand der Stiftung Ordnungspolitik, seit 2006 Direktor des Centrums für Europäische Politik. Die Stiftung wurde 1999 gegründet. Sie versteht sich als unabhängige Denkfabrik. Dem Kuratorium der Stiftung gehören Altbundespräsident Roman Herzog und der frühere Bundesbankchef Hans Tietmeyer an. Auch in der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft war Gerken aktiv. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen nationale und internationale Ordnungspolitik und europäische Integration.

 
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