Gastbeitrag
In den letzten Monaten verdichten sich die Ereignisse, die darauf schließen lassen, dass (nukleare) Abrüstung und Rüstungskontrolle global immer geringere Priorität genießen: Die USA verlängern den INF-Vertrag nicht, Anfang August kam es bei Militärtests in Russland zu einer Explosion und Freisetzung von Strahlung, und Japan sieht in ihrem Verteidigungs-Whitepaper vom 20. August in Nordkorea weiter eine große sicherheitspolitische Gefahr. Welche Konsequenzen haben diese Entwicklungen, warum erleben Nuklearwaffen ein Comeback, und was könnte das für die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik bedeuten?
Am 16. Juli 1945 wurde die Wüste von Nevada Schauplatz der ersten Kernwaffenexplosion. Auf den Test folgte wenige Tage später Ernst, nämlich der Abwurf der Atombomben Little Boy und Fat Man über den japanischen Großstädten Hiroshima und Nagasaki. Die Zerstörung war so unermesslich, dass man sich fragte, ob die neue Waffengattung den Weltfrieden oder den Weltuntergang bringen würde. Weder noch, lautet 74 Jahre später die Antwort.
Mit Hilfe von Nuklearwaffen garantierten sich die USA und die Sowjetunion während des Kalten Krieges die gegenseitige Vernichtung – und verhinderten so wohl eine Eskalation. Um jedoch die Glaubwürdigkeit ihrer atomaren Möglichkeiten zu demonstrieren, testeten die Atommächte USA, Sowjetunion, China, Großbritannien und Frankreich ihre Waffen bis 1990 mehr als 2000 Mal. Schätzungen der internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen gehen davon aus, dass mehr als zwei Millionen Menschen infolge dieser Detonationen an Krebs erkrankt sind. Die Opfer der französischen Tests im Pazifik warten bis heute auf Entschädigung.
Die internationalen Bemühungen um global zero, eine atomwaffenfreie Welt, fußen bis heute vor allem auf dem Atomwaffensperrvertrag von 1970. Laut diesem dürfen Nicht-Atomwaffenstaaten nicht nach dem Besitz der Bombe streben. Fast alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen gehören zu den Unterzeichnern – bis auf Indien, Pakistan und Israel, die stattdessen lieber selbst Atomwaffen entwickelt haben. Nordkorea hat den Vertrag 2003 verlassen und gilt spätestens seit 2006 ebenfalls als Atomwaffenstaat.
Es steht zu befürchten, dass weitere Staaten versuchen werden, diesem Beispiel zu folgen. Die diktatorischen Regime des Irak und Libyens wurden durch militärische Interventionen gestürzt, nachdem sie eigene Programme zur Entwicklung von Atomwaffen beendet hatten. Dem Iran, der seit längerem an einem Atomwaffenprogramm arbeitet, dürften diese Beispiele Warnung sein.
Auch wenn die Anzahl nuklearer Sprengköpfe weltweit nicht mehr bei 70 000 liegt, wie noch während des Kalten Krieges, sondern bei rund 14 000, so haben Kernwaffen keineswegs an Bedeutung verloren. Das Ende des Ost-West-Konfliktes hat nicht die Ära der Atomwaffen beendet, sehr wohl aber die Ära der Atomwaffentests. Eine große Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten hat sich 1996 auf ein umfassendes Verbot von Atomtests geeinigt.
Auch wenn der Vertrag bisher nicht in Kraft treten kann, weil Indien, Nordkorea und Pakistan nicht unterzeichnet und die USA, Israel und China das Dokument nicht ratifiziert haben, werden die Vereinbarungen berücksichtigt. Die Ausnahme bildet Nordkorea, das zwischen 2006 und 2017 insgesamt sechs Atomtests durchgeführt hat, die bisher einzigen im 21. Jahrhundert. Der Verzicht auf Atomwaffentests hat sowohl auf Atommächte als auch auf Nicht-Atomwaffenstaaten manifeste Auswirkungen. Nicht-Atommächte sind auf reale Tests angewiesen, um sich und potentielle Gegner von der Funktionstüchtigkeit ihrer Waffen zu überzeugen. Atommächten wird es ohne Erprobungsmöglichkeit erschwert, ihre Atomwaffen weiterzuentwickeln, ohne an Verlässlichkeit einzubüßen. Das US-amerikanische Militär ist deshalb bereits dazu übergegangen, seine Sprengköpfe in Computersimulationen zu testen. Der Vertrag zum umfassenden Verbot von Nukleartests leistet insofern einen wertvollen Beitrag, um die Weiterverbreitung und Weiterentwicklung von Atomwaffen einzudämmen.
Russland arbeitet derzeit ebenso wie die USA, China und Indien an der Entwicklung besonders leistungsfähiger Marschflugkörper. Diese sollen über unbegrenzte Reichweite verfügen und können aufgrund ihrer Geschwindigkeit nicht von bisher existierenden Systemen abgefangen werden. Ein Wettrüsten um neue Trägersysteme hat längst begonnen. An internationalen Initiativen zu deren Begrenzung und Kontrolle fehlt es bislang jedoch völlig. Die Entwicklung von gefährlichen Waffensystemen wird sich mit dem technischen Fortschritt weiter beschleunigen. Die internationale Rüstungskontrolle muss versuchen, diesem Tempo zu folgen. Der ehemalige US-Präsident Barack Obama fand dazu während seiner Rede in Hiroshima 2016 passende Worte: „Technischer Fortschritt ohne entsprechenden Fortschritt bei den menschlichen Institutionen kann unser Verhängnis werden.“
Sebastian Vagt leitet den Expert Hub für Sicherheitspolitik der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Aus Brüssel analysiert er die Entwicklungen in der Nato und der europäischen Verteidigungspolitik. Sebastian Vagt, der zuvor bei der Bundeswehr war, ist Staats- und Sozialwissenschaftler.