Die Spionageaffäre entwickelt sich immer mehr zu einer der schwersten Krisen zwischen Deutschland und Amerika nach dem Zweiten Weltkrieg. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zweifelt am Kooperationswillen der USA und einem Stopp der Spionage. Die Geheimdienstzusammenarbeit will sie aus Sorge vor möglichen Terrorakten aber nicht infrage stellen. Die US-Regierung zeigte sich verstimmt über die deutschen Reaktionen auf die beiden mutmaßlichen Spionagefälle.
Dabei sollen die bisherigen Enthüllungen erst der Anfang sein. Erstmals seit der Zuspitzung sprachen Deutschland und die USA auf hoher Ebene direkt miteinander.
Merkel sieht die Vertrauensbasis erschüttert, wie sie im ZDF betonte. Auch nach der Ausreise-Aufforderung Deutschlands an den obersten US-Geheimdienstvertreter zweifelt die Kanzlerin an einem Ende der US-Spionage hierzulande. Es sei nicht einfach, die Amerikaner davon zu überzeugen, „die Arbeit der Nachrichtendienste jetzt völlig umzukrempeln“. Deutschland werde weiter deutlich machen, „wo die unterschiedlichen Auffassungen liegen“. Sie könne nicht voraussagen, ob sich das US-Verhalten ändere. Sie hoffe es natürlich.
Steinmeier trifft Kerry
„Wir wollen die partnerschaftliche Zusammenarbeit“, betonte Merkel. Dazu gehöre aber, dass man sich nicht gegenseitig ausspioniere. Die Kanzlerin stellte nochmals klar, dass sie deutsche Geheimdienste nicht angewiesen habe, die Zusammenarbeit mit US-Diensten zurückzufahren. Diese sei aus Gründen der Sicherheit weiter nötig. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) traf sich am Sonntag in Wien mit seinem US-Kollegen John Kerry. Die beiden Chefdiplomaten wollten am Rande der Atomgespräche die Affäre und ihre Konsequenzen erörtern.
Neustart der Beziehungen
Der Sprecher des Weißen Hauses, Josh Earnest, hatte gefordert: „Alle Differenzen, die wir haben, sind am effektivsten über bestehende interne Kanäle zu lösen, nicht über die Medien.“ Präsident Barack Obama und Merkel haben seit Tagen nicht mehr miteinander gesprochen. Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) forderte in der „Bild“ (Montag), Obama müsse anerkennen, „dass man in einer Freundschaft nicht so miteinander umgehen kann“. Steinmeier forderte einen Neustart der transatlantischen Beziehungen. Alle Verantwortlichen sollten bereit sein, die Freundschaft beider Staaten ehrlich neu zu beleben, sagte er der „Welt am Sonntag“. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) forderte im „Tagesspiegel am Sonntag“: „Wenn das Vertrauen in die deutsch-amerikanischen Beziehungen nicht weiter schwinden soll, muss Washington solchen Übergriffen politisch einen Riegel vorschieben.“
Warnung vor Antiamerikanismus
SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann kritisierte die amerikanische Geheimdienstpolitik im SWR als Förderprogramm für Antiamerikanismus. Justizminister Heiko Maas (SPD) sieht das Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA gefährdet. Dafür brauche es ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Zustimmung. „Und die läuft uns im Moment wegen der Spionageaffäre davon“, sagte er im „Kölner Stadt-Anzeiger“. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter forderte in der „Welt am Sonntag“, die Verhandlungen zu stoppen. Merkel betonte, sie halte nichts von einer Aussetzung. Sie lägen in deutschem Interesse.
Am Donnerstag hatte die Bundesregierung den obersten Geheimdienstler der Amerikaner in Berlin aufgefordert, Deutschland zu verlassen. Begründet wurde der Schritt mit den Ermittlungen gegen zwei mutmaßliche Spione der USA beim Bundesnachrichtendienst (BND) und im Verteidigungsministerium sowie den Spähaktionen des US-Dienstes NSA. Der US-Geheimdienst CIA führt laut „Bild am Sonntag“ mehr als ein Dutzend Regierungsmitarbeiter in Deutschland als Quellen. Im Visier seien dabei die Bundesministerien für Verteidigung, Wirtschaft, Inneres und Entwicklungshilfe, berichtete das Blatt aus US-Geheimdienstkreisen. Der Vorsitzende des NSA-Untersuchungsausschusses, Patrick Sensburg (CDU), sagte im „Spiegel“: „Ich bin mir sicher, dass in den nächsten Wochen und Monaten noch mehr rauskommen wird und dass dabei nicht nur Amerika im Fokus stehen wird.“ Im „Focus“ kündigte er an, der Ausschuss werde untersuchen, wie die USA die mutmaßlichen Spione geführt habe. Rufe nach einer Ausweitung der deutschen Spionage auch auf die USA werden lauter. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) forderte in der „Bild“ Aufklärung auch in befreundeten Staaten. Laut „Spiegel“ ist in der Bundesregierung der Wille dazu gewachsen. Der designierte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker warnte in der „Bild am Sonntag“ vor einem nachhaltigen Vertrauensbruch. „Die Regierungen haben die Kontrolle über ihre Geheimdienste verloren.“ Man müsse jetzt den amerikanischen Freunden erklären, dass Freunde sich zuhören, anstatt sich abzuhören, sagte er. Der Vorgang könne nicht nur zu einer „transatlantischen Vertrauenskrise“ führen, sondern auch „zu einer Vertrauenskrise unserer Bürger gegenüber dem Staat,“ mahnte er weiter.
Neue Details
Unterdessen wurden Details aus den Ermittlungen gegen die zwei unter Verdacht stehenden Männer bekannt. Mehreren Medien stellten facettenreich dar, dass der BND-Mann die USA über Jahre fleißig mit teils geheimem Material versorgt haben soll – beim Mitarbeiter des Wehrressorts sei nicht absehbar, ob sich der Verdacht bestätige. Die Bundesanwaltschaft wollte sich nicht weiter äußern. Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums betonte: „Es gilt die Unschuldsvermutung.“