Für einen Moment stand das Leben in Japan still: Mit einer Schweigeminute und Gebeten gedachten die Bewohner des Inselreichs am Sonntag der rund 19 000 Toten und Vermissten der Erdbeben- und Tsunamikatastrophe vor einem Jahr.
Um 14.46 Uhr Ortszeit (6.46 Uhr MEZ) senkten die Menschen teils in Schnee und Kälte in den verwüsteten Küstenregionen, in Tempeln und anderen Orten schweigend ihre Köpfe – zu diesem Zeitpunkt hatte am 11. März 2011 ein Erdbeben der ungeheuren Stärke 9,0 das Land erschüttert. Die gewaltigen Erdstöße lösten einen Jahrhundert-Tsunami aus und führten zum Super-GAU im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi.
„Wir werden alles tun, um den Menschen in den betroffenen Regionen zu helfen, damit sie ihr Leben wieder aufbauen und ihre Heimatorte, in denen sie geboren sind und aufwuchsen, als sichere und lebenswerte Orte wiederauferstehen“, versprach Regierungschef Yoshihiko Noda bei einer staatlichen Gedenkzeremonie in Tokio. Auch Kaiser Akihito und Kaiserin Michiko nahmen daran teil.
Bis zu 15 Meter hohe Flutwellen hatten Städte und Dörfer verwüstet. 115 000 Gebäude entlang eines 400 Kilometer langen Küstenstreifens wurden vollständig zerstört. Mehr als 340 000 Menschen mussten ihre Heimat verlassen. Weite Gebiete nahe der Atomruine Fukushima sind noch immer so verstrahlt, dass eine Rückkehr der Menschen ungewiss ist.
Während in Japan die Opfer des Tsunamis im Vordergrund des Gedenkens standen, wurde in Deutschland und anderen Ländern vor allem an die Atomkatastrophe erinnert. In Deutschland forderten Tausende Menschen bei Demonstrationen und Menschenketten eine rasche Umsetzung der Energiewende und einen Neustart beim Umgang mit dem radioaktiven Atommüll. Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) sprach von bundesweit mehr als 20 000 Teilnehmern. Die größten Proteste gab es an den Atomkraftwerken im bayerischen Gundremmingen mit 3000 bis 4000 Demonstranten und im schleswig-holsteinischen Brokdorf mit 2300 bis 3000.
„Wir werden so lange demonstrieren, bis das letzte Atomkraftwerk in Deutschland vom Netz ist, aber nicht nur in Deutschland“, sagte Grünen-Chefin Claudia Roth in Brokdorf. Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) erklärte in Berlin, die deutsche Energiewende mit dem beschleunigten Atomausstieg als Folge des japanischen Super-GAUs sei Vorbild für die ganze Welt.
In Tokio forderten etwa 10 000 Demonstranten die Stilllegung aller Atomkraftwerke. Insgesamt sind die Anti-Atom-Proteste in Japan aber weiter relativ gering. Im Ort Okuma in der Provinz Fukushima legte eine Gruppe geflohener Anwohner der Atomruine mitten in der 20-Kilometer-Evakuierungszone Blumen für die Opfer des Tsunamis nieder – in weißer Strahlenschutzkleidung und mit Atemschutzmasken.
„Ich bitte Sie, dass es nicht bei den Veranstaltungen am heutigen Tag bleibt“, sagte eine ältere Frau in der schwer verwüsteten Küstenstadt Kesennuma in einer Fernsehsendung. Wie sie fürchten viele Opfer, dass die Katastrophe bei der breiten Bevölkerung in Vergessenheit gerät und der Wiederaufbau zum lokalen Problem verkommt. „Bitte vergessen Sie uns nicht“, flehte die Frau, die in einer von 53 000 Container-Behelfswohnungen lebt.
An mehreren Orten gab es zudem Katastrophenschutzübungen. Experten forderten, dass sich das Land auf noch größere Katastrophen besser vorbereiten müsse. Studien zeigen, dass das Risiko eines weiteren schweren Erdbebens in Fukushima wie auch im Raum der Neun-Millionen-Hauptstadt Tokio seit dem Katastrophentag gestiegen ist..
Die Dreifach-Katastrophe
Das Erdbeben mit der Stärke 9,0 war das bisher schwerste in der Geschichte Japans. Es löste auch einen Tsunami aus. Mehr als 260 Küstenstädte wurden zum großen Teil zerstört. Rund 15 800 Menschen starben, mehr als 3700 weitere werden vermisst. Die zivilen Schäden der Dreifach-Katastrophe belaufen sich insgesamt auf etwa 160 Milliarden Euro. Die Katastrophenregion um Fukushima ist auf Jahrzehnte unbewohnbar. Mehr als 100 000 Menschen haben ihre Heimat verlassen, Tausende leben noch immer in Notunterkünften. Über 10 000 Tonnen radioaktiv verseuchtes Wasser flossen in den Ozean. Es geriet 168-mal mehr Cäsium 137 in die Umwelt als bei der Explosion der Hiroshima-Bombe. Fukushima-Betreiber Tepco zufolge wird es noch bis zu 40 Jahren dauern, bis das Kraftwerk vollständig gesichert ist. Rund 20 000 Arbeiter halfen bislang, die Reaktoren unter Kontrolle zu bringen.
ONLINE-TIPP
Risiko Lebensmittel: Eine in Tokio lebende Würzburgerin erzählt von ihrem Alltag nach der Reaktorkatastrophe. Plus Umfrage: Glauben Sie an die Energiewende in Deutschland? www.mainpost.de/fukushima